Künstlerische Intelligenz – oder vom Willen zum Sinn

Von Daniel Osterwalder

Ende Dezember 2017 berichtete Nature über eine von der Google-Tochter DeepMind entwickelte Software AlphaGo Zero, die sich im geschlossenen System selbstlernend eine kaum vorstellbare Anzahl an Zügen für das chinesische Brettspiel Go angeeignet hatte. Mit 5185 Elo-Punkten erreichte die Software eine Spielstärke, an die kein Go-Spieler heranreicht. Im Gegensatz zu Ke Jie aus China, dem weltbesten Go-Spieler (Elo-Punkte 3627) weiss Alphago Zero jedoch nicht, dass es Go spielt. Es fehlt der Maschine an Bewusstsein, Reflektionsfähigkeit und damit Sinngebung. Und genau dies ist der Grund, dass wir uns neben künstlicher Intelligenz auch mit künstlerischer Intelligenz auseinandersetzen müssen.

Im Anfang war das Wort…

Aber beginnen wir gleich am Anfang: «Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort,» heisst es so unverfangen in Johannes, Kapitel 1. Für jene, die glauben, erklärt sich damit die Welt relativ einfach. Nähern wir uns jedoch wissenschaftlich dem Wort, dann können wir uns etymologisch ans Wort pirschen. Wir wissen relativ viel darüber, wie wir Wörter analysieren, ihre Herkunft und ihre vielfältigen Bedeutungen klären können. Wir können mit Hilfe weniger Regeln die Bedeutung eines Wortes klären und definieren. Etwas komplizierter wird es, wenn wir uns das Diktum des Ingenieurs und Philosophen Ludwig Wittgenstein zu Herzen nehmen, der da schrieb, dass «Die Bedeutung eines Wortes … sein Gebrauch in der Sprache» [ist] (Philosophische Untersuchungen 43), was gemäss seinem Ansatz sich in vielfältigen Sprachspielen und Lebensformen niederschlug. Sprachphilosophie und –Logik sind jedoch noch immer relativ «einfach» zu verstehen.

... und am „Ende“ Finnegans Wake?

Was aber geht ab, wenn wir uns der Sprache des Künstlers annähern? Ist das noch immer einfach? Regelbasiert? James Joyce, einer der wirklich Grossen der Weltliteratur hat mit Finnegans Wake ein Werk geschaffen, das sich auch heute noch den Wenigsten erschliesst und nicht etwa, weil er eine Art Privatsprache entwickelte, sondern weil er vor der weissen Leinwand ein Panoptikum an Sprachvielfalt erschuf, das noch heute seinesgleichen sucht. Aber schauen wir doch mal genauer hin: «Are we speachin d’anglas landadge or are you sprakin sea Djoytsch?» Da fliessen einmal Englisch, Deutsch, Französisch, Holländisch (Dutch) und Gälisch ineinander. Dann eröffnet uns Joyce mit dieser sehr spezifischen Art des Verdichtens, Konnotierens eine Vielfalt an Interpretationsmöglichkeiten, womit er der Gleichzeitigkeit von Wahrnehmung schon sehr nahekommt. Und er schafft so Welt, viele Welten mittels Sprache, mittels künstlerischer Intelligenz.

Das Grundproblem

Damit sind wir bereits im Auge des Hurrikans angelagt, bei der Frage nämlich, was wir denn genau unter Intelligenz verstehen, wie dieses sich absetzt von Denken und was denn nun Denken sei. Denn recht eigentlich kann künstliche Intelligenz nicht künstlerische Intelligenz sein, solange nicht klar ist, was Intelligenz eigentlich ist. Ist es Sprachfertigkeit? Räumliche Verortung, Planungs- und Orientierungsfähigkeit? Überlebensfähigkeit? Intrapersonale und interpersonale Kompetenz? Ist es Algorithmisierung? Und wenn Intelligenz tatsächlich in einer Beziehung zu Denken steht: Was ist denn nun Denken und wie entstehen Denkprodukte, also Gedanken, Gedankenmodelle und Lernprodukte?

Weil eine präzise Definition von Intelligenz bereits zu Zeiten Turings fehlte, ist er davon ausgegangen, dass Intelligenz ein Produkt des Beobachters ist, also nichts anderes ist als eine Zuweisung durch den Betrachter. Da haben wir jedoch spätestens dann ein Problem, wenn wir davon ausgehen müssen, dass Menschen in ihren Wahrnehmungen vielfältigen Biases oder Verzerrungen und Heuristiken ausgesetzt sind. D.h. Beobachter lassen sich sehr einfach etwas vorspielen, was nicht ist. So waren Roboter am Fraunhofer Institut von der Frage «Hol mir mal ein Glas» überfordert, weshalb die Forscher die Roboter antworten liessen: «Entschuldigen Sie, ich bin nur ein Roboter, könnten Sie den Satz wiederholen?» Für viele Menschen war dies ausreichend dafür, den Roboter als intelligent wahrzunehmen.

«Das reichte aus, damit sie dachten, der Roboter sei intelligent», so Bauckhage.

Der Kern

«Zweifellos werden wir niemals wissen, woher das Wissen zu uns gelangt. Der möglichen Quellen sind viele; vielleicht entspringt es daraus, dass wir sehen, hören oder beobachten; sprechen, befürworten, widersprechen; fälschen, nachahmen, begehren, hassen, lieben; Furcht haben und uns verteidigen; Wagnisse, Risiken, Wetten eingehen; gemeinsam oder vereinzelt leben und arbeiten; durch Besitz oder Können Macht ausüben wollen; Schmerz stillen, Krankheiten behandeln oder als Mörder und Krieger töten; erstaunen angesichts des Todes; beten bis zur Ekstase; etwas herstellen mit eigener Hand, die Erde gestalten oder zerstören... und es macht uns unruhig, dass wir nicht wissen, welchem dieser Akte, dieser Worte, dieser Zustände oder welchen anderen unbekannten Zielen es zustrebt, jetzt, unwissentlich...». Michelle Serres, einer der vierzig «Unsterblichen» der Académie française trifft mit seiner Einleitung zu den Elementen einer Geschichte der Wissenschaften einen wichtigen Kern dessen, was ich hier in einigen iterativen Schleifen untersuchen will. In seiner gesamten Breite legt er dar, dass wir nicht wissen, woher unser Wissen zu uns gelangt und dass der Kern des Wissens sich in einem grossen Fächer ausbreitet und nicht auf den einen Punkt gebracht werden kann. Und schliesslich legt Serres nahe, dass es um Sinn (also Sinn und Bedeutung) und um unsere Sinne geht und wie wir Welt wahrnehmen und dieser Sinn zuweisen und damit Welt schaffen.

Künstlerische Intelligenz – eine Journey

Künstlerinnen stehen immer wieder vor Situationen, dass sie ganz neu, ohne Vergleichswerte vor einer Aufgabe stehen, die sich in erster Linie als weisse Leinwand, weisses Blatt oder eben als Leere auftut. Gähnende Leere, schwere Leere, keine Struktur, kein Anhaltspunkt, kein Anker, woran ich einen Gedanken, eine Idee oder einen Fetzen aufhängen kann als Start. Sie halten diese Situationen einen Moment aus, einige Stunden, Tage, Wochen und dies berührt einen sehr grundsätzlichen Aspekt künstlerischer Intelligenz: Die Fähigkeit, auszuhalten, auszuharren, ohne vorgegebenes Ziel diesen Zustand der Balance zwischen Energie und Kraftlosigkeit auszuhalten und auch in diesen Zustand einzutauchen, um aus dieser Leere Kraft, Energie, Kunst zu schöpfen. Und tatsächlich zu schöpfen als schöpferischer Akt aus dem «Nichts» der Stille, der weissen Leinwand – nicht unähnlich dem Phönix, der aus der Asche steigt.

In sich ruft dies nach einem weiteren Aspekt künstlerischer Intelligenz – nach Optimismus, der sich aus dem Inneren speist, aus innerer Energie, inneren Bildern und Vorstellungen und einer inneren Ruhe, dass es gelingen wird, wenn sich auch die Suche danach auch verzehrend zeigen kann.

Weiter sind Künstler ungemein gut darin, wahrzunehmen – und dies nicht nur mit den fünf bekannten Sinnesorganen, sondern mit allen 10 Sinnen. Wir leben heute in einer medienverstellten Welt, die uns tagein tagaus abfüllt mit verschiedensten Eindrücken, die passiv vor uns aufwallen. Künstlerinnen jedoch horchen bewusst, schauen, nehmen in die Hand, nehmen sich wahr in Welt (Gleichgewicht, Propriozeption wie

Eigentemperatur, Eigenbewegung, Muskelspannung, Wärme- und Kälteempfindung, Druck).

Zum eingangs erwähnten Aushalten gehört auch das Einlassen auf das Ungewisse, das Unbekannte, das Neue, das Verborgene und damit mittels Präsenz eine ganzheitliche Erfassung des Untersuchungsgegenstandes.

Und schliesslich gehört ein wenig Mut zur Künstlerischen Intelligenz, der Mut, dem Tiger die Schnurbarthaare zu kitzeln.


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