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Die Schweiz muss aus ihrem geo-, sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Tiefschlaf erwachen

Es stellt sich die Frage, warum die Schweiz von der Zollpolitik Donald Trumps überrascht war und sich nicht proaktiv darauf vorbereitet, und keine entsprechende Schutzstrategien entwickelt hat. Es stellt sich aber auch die Frage, ob die kritische Menge der Informationen noch nicht erreicht wurde, die zum Durchbruch der Wahrnehmung und des Erkennens der Gefahren und schließlich zum Umsetzen der nötigen Maßnahmen führte. Ich möchte einige Überlegungen vorstellen, die diesen Effekt der Wahrnehmungshemmung beleuchten.

Im Bereich der (Sozial-) Psychologie hat sich hierzu ein empirisch validiertes Modell herausgestellt, das man mit dem Begriff der „Gelernten Sorglosigkeit“  beschreibt. Danach machen Menschen oft die Erfahrung, dass sie ohne großen Aufwand Erfolge erzielen bzw. positive Zustände erreichen und bei riskantem Verhalten keine negativen Konsequenzen eintreten. „Alles ist gut und wird auch (von selbst) gut bleiben“ (vgl. Sorglosigkeit). Dieses Phänomen könnte man auch damit umschreiben, dass man die „rosarote Brille“ aufbehält und objektiv bestehende Risiken nicht wahrnehmen will. 

Beispielsweise und anscheinend hat die Schweiz die Entwicklungen in den USA nicht hinreichend beobachtet, wie sich bereits unter der Biden Administration deren wirtschaftspolitischen Ansatz grundlegend geändert hat. Biden hat mit dem Infrastructure Investment and Jobs Act (2021), dem Chips and Science Act (2022) und schließlich dem Inflation Reduction Act ( 2022) verdeutlicht, wie er die Rolle des Staates positioniert und den Führungsanspruch der USA sowohl wirtschaftlich als auch geopolitisch sieht und mit gezielten Investitionen stärken will. Es geht um die Verschränkung von Industrie- und Wirtschaftsinteressen mit sicherheitspolitischen Ansprüchen. Dies wird auch anlässlich eines vielbeachteten Statements seines Sicherheitsberaters Jake Sullivan vom April 2023 deutlich. Die Quintessenz von Sullivans Rede war, dass die Sicherheits- und Geopolitik die Wirtschaftspolitik nicht nur beeinflusst, sondern steuert.

Mit neuen Ansätzen wie etwa „wirtschaftlichen Partnerschaften“ statt der herkömmlichen, althergebrachten Handelsabkommen oder neuen Investitionen in Schwellenländern und dem Vorantreiben und Schutz innovativer Technologien sollten die Vorherrschaft und Weltmachtstellung der USA weiter gefestigt werden. Mit dem Ansatz gezielter bilateralen Partnerschaften mit Ländern, die einzelnen, punktuellen Interessen der USA dienen, strebten die USA an, flexibler auf die aktuellen geopolitischen Herausforderungen reagieren zu können. Das gilt auch für europäische Partner, die an diesen Kriterien gemessen werden, verbunden mit den Auswirkungen auf westliche Unternehmen. All diese neuen Ansätze in der US-Wirtschaftspolitik dienen dazu die globale Vormachtstellung zu behalten und nicht zu verlieren. Übersetzt für die Schweiz bedeutet dies, dass Handelsbeziehungen indirekt abhängig gemacht werden, wie die Schweiz sich international positioniert und welche Beziehungen sie mit anderen Ländern pflegt. 

Mit der Wahl Donald Trumps zum 47. US -Präsidenten hat sich dieser Kurs drastisch verschärft und geradezu disruptiv verändert.

Die wichtigste Erkenntnis seines Ansatzes ist, dass Allianzen wie die NATO, der Freihandel im Rahmen der WTO (bereits seit 2019 wird die Handlungsfähigkeit der WTO durch die Verhinderung der Nachbesetzung von Richtern blockiert oder das sog. Meistbegünstigungsprinzip ignoriert) oder Beziehungen mit Kanada, Europa oder asiatischen Verbündeten wie Südkorea oder Taiwan keine entscheidende Rolle mehr spielen. All diese Beziehungen sollen nur noch dem Ziel zum Vorteil der USA untergeordnet werden und im Fall auch als Druckmittel zugunsten US-amerikanischer Interessen eingesetzt werden.

Obgleich all diese Entwicklungen erkennbar waren und bereits hohe Zölle bei anderen Staaten erhoben wurden, glaubte sich die Schweiz mit deren Zollverhandlungen sicher, nicht massiv getroffen zu werden. Hier spielt das sogenannte Hedonismusprinzip psychologisch eine entscheidende Rolle. Danach bewahrt man sich positive Zustände auf Kosten langfristiger Überlegungen und verteidigt diese; denn Sorglosigkeit ist ein so angenehmer Zustand, den man erhalten will, wohingegen Sorgfalt mit Aufwand verbunden ist und aus dem angenehmen Zustand herausführt.

Symptome für ein solches Verhalten sind nach Schulz-Hardt und Frey die verringerte Motivation zur Gefahrenaufdeckung, eine unkritisch gehobene Stimmung und eine verkürzte Zeitperspektive, d.h. das Denken und Handeln ist auf die Gegenwart und allernächste Zukunft fixiert oder man umgibt sich nur mit Personen, die die eigene Auffassung bestätigen. Die Schweiz hielten an ihrer positiven Einschätzung fest, obwohl alle objektiven Anzeichen auf das Worst Case Szenario hingedeutet haben. Aus der Sicht der Trump-Administration spielt die Schweiz keine bedeutende geopolitische Rolle, auf die Rücksicht zu nehmen wäre. Das hat man in Bern nicht verstanden.

Als Konsequenz tritt nach dieser Theorie dann eine verringerte oder gar völlig fehlende Bereitschaft zur Verhaltensänderung ein; das führt dazu, dass Gefahrensignale nicht in einer angemessenen Reaktion münden. Und zur Aufrechterhaltung der Sorglosigkeit greift man zu Defensivstrategien wie Vermeidung, Verdrängung (vgl. bis dahin fließt noch viel Wasser den Bach hinunter), Überoptimismus (vgl. mir wird das schon nicht passieren), Kontrollillusion (vgl. ich habe alles im Griff), Alibihandlungen zur Gewissensberuhigung oder man gibt sich dem Fatalismus hin (vgl. ich bin zwar gefährdet, aber ich kann sowieso nichts tun). Und genau dies ist auf kollektiver Ebene der Schweizer Politik erfolgt. Und die jetzigen Überlegungen etwa den FIFA-Präsidenten Gianni Infantino als „Mediator“ zu gewinnen, zeigt die Hilflosigkeit der handelnden Personen.

Es bleibt festzustellen, dass durch dieses wissenschaftlich belegte psychologische Prinzip der „gelernten Sorglosigkeit“ die Frage nach der mangelnden Antizipation von sich abzeichnenden Krisen und die damit einhergehende mangelnde strategische Ausrichtung an den festgestellten, veränderten Rahmenbedingungen besser nachvollzogen werden kann.

Was bleibt zu tun?

Man sollte sich nicht der Hoffnung hingeben mit Nachverhandlungen entscheidend weiterzukommen. Ferner muss davon ausgegangen werden, dass die Unsicherheit in den Entscheidungen Trumps weiter bestehen bleiben, wie das Beispiel der Vereinbarungen mit der EU zeigt. Die Antwort kann nur lauten: Die Schweiz muss endlich realisieren, dass die werte- und regelbasierte Handelspolitik von früher endgültig vorbei ist. Ein symmetrischer, globaler Austausch findet nicht mehr statt. An deren Stelle ist klare Machtpolitik getreten.

Als Lösung bietet sich an, andere, neue Allianzen einzugehen. Bilaterale Handelsverträge, Diversifizierung bei den Lieferketten und Investitionen schaffen sowie die Themen Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und nationale Sicherheit verzahnter und interdisziplinärer anzugehen. Es reicht leider nicht, dass bei Verhandlungen nur Juristen und Ökonomen federführend sind. Es braucht einen weiteren intellektuellen und kreativen Background. 

 

Silvia Reischer, Senior Fellow SIGA