
Am 6. und 7. Juli 2025 fand in Rio de Janeiro, Brasilien der jährliche BRICS-Gipfel statt. Viele Kommentatoren und Analysten lesen diesen Gipfel bereits als Niedergang und Zeichen der Dysfunktionalität des BRICS-Konstruktes. Argumentativ werden das Fernbleiben von Xi Jinping und Vladimir Putin, sowie wiederholend die grosse Heterogenität der teilnehmenden Länder genannt. Diese Analysen greifen jedoch zu kurz und unterschätzen die geostrategische Bedeutung der BRICS als Symbol und strategischer Machtfaktor. Eine westzentrierte, rationalistische und ökonometrische Betrachtungsweise verpasst die eigentlichen Vektoren der Geopolitik. Denn narrativ (Vektor 1) kann das Fernbleiben von Xi und Putin unterschiedlich interpretiert werden. Es macht strategisch durchaus Sinn, BRICS aktuell nicht zu viel Gewicht zu geben, was situativ angepasst werden kann und die langfristige Strategie keinesfalls schwächen würde. Das Fehlen von Xi am BRICS-Gipfel könnte aber noch ganz andere Gründe haben. Dazu mehr weiter unten. Vektor 2 liegt in der Vernetzungskultur. Vernetzung lebt von Unterschiedlichkeit. Heterogenität ist dabei keine Schwäche, sondern eine Stärke. Die Anziehungskraft von BRICS scheint ungebremst gross zu sein. Dieses Jahr wurde Indonesien – immerhin grösste Volkswirtschaft Südostasiens, ASEAN-Mitglied und G20-Staat - bei BRICS «aufgenommen». Der Kreis an formellen Partnerstaaten wird ebenfalls grösser. Zahlreiche Meetings fanden zu Zukunftsthemen wie Innovation und neue Technologien, grüne Transformation und Nachhaltigkeit, Weltraum, Gesundheit und Finanzen statt. Zudem werden langfristige Fakten geschaffen (Vektor 3), die auch langfristige Abhängigkeiten kreieren.
Fehlinterpretationen

Vladimir Putin und Xi Jinping haben nicht persönlich am diesjährigen BRICS-Gipfel teilgenommen. Bei Xi war es das erste Mal, dass er fernblieb. Dies wurde als Schwäche der BRICS gedeutet. Während das Fehlen von Putin einen einfachen Grund hat, nämlich dass er verhaftet werden müsste in Brasilien, wurde viel über Xi Jinping spekuliert. Von fehlender Priorisierung bis zu Animositäten gegenüber Indiens Premier Modi wurden verschiedene Thesen genannt. China selber sprach bürokratisch-nonchalant von Terminkonflikten als Entschuldigung. Was bei diesen Interpretationen vergessen geht, ist, dass heute Innen- und Aussenpolitik enger verzahnt sind und im Falle Chinas ein Verständnis der inneren Machtstrukturen der Kommunistischen Partei nötig ist, um solche Symbole einordnen zu können. Xi wurde durch den Premierminister Li Qiang vertreten. Dabei muss beachtet werden, dass Li in der chinesischen Diplomatie an Bedeutung gewinnt. Er vertritt und begleitet immer öfters Xi an hochkarätigen Veranstaltungen im In- und Ausland. Dieser Trend könnte also einen Rollenwechsel bedeuten, der innerhalb der Machtstrukturen stattfindet. Xi könnte sich auf eine strategische Rolle konzentrieren, während Li in der operativen Alltagspolitik mehr in Erscheinung tritt. Dies gilt es weiter zu beobachten. Daraus nun aber eine Schwäche des BRICS-Konstruktes abzuleiten, wäre missverständlich. Zumal es im ausserwestlichen strategischen Denken Teil der Strategie sein kann, situativ einem Phänomen mehr oder weniger Gewicht zu geben und es aktuell opportun sein kann, BRICS nicht zu stark hervor zu streichen. Dass aber neben der grossen Bühne Fakten geschaffen werden, wie etwa durch eine Erweiterung des BRICS-Netzwerkes oder in kritischen Bereichen wie seltene Rohstoffe, geht geflissentlich unter und zeugt viel eher von einer Strategielosigkeit bei der Antwort auf die aktuellen geopolitischen Verschiebungen.
Fakten schaffen durch Rohstoffabhängigkeiten

China hat es mit einer äusserst cleveren Strategie verstanden, kritische Rohstoffe für Zukunftsindustrien und die grüne Wende für sich zu monopolisieren. So wird beispielsweise seltene Erde, welche für über 200 Produkte, vor allem für Zukunftstechnologien, wichtig sind, von China kontrolliert. Sie produzieren circa 60 Prozent der Seltenen Erde und Prozessieren knapp 90 Prozent des weltweiten Vorkommens. Dies wurde systematisch und von langer Hand geplant und wird als Teil einer «Beherrschungs-Logik» und als aktive Verteidigung verstanden. Bemerkenswert, da 1993 die Produktion in China gerade mal 38 Prozent betrug und die USA mit 33 Prozent nahezu gleichauf war.
Heute braucht man keine kinetische Kraft, um den Gegner in Schach zu halten, sondern die Kontrolle über kritische Rohstoffe und die entsprechenden Lieferketten machen gerade die westlichen informationsgetriebenen Staaten verletzlich und abhängig.
Dieses Beispiel zeigt deutlich, dass man heute in der Weltpolitik multivektoriell vorgehen muss. Unterschiedliche Vektoren können in unterschiedlichen Gemengelagen unterschiedliche Effekte produzieren. So ist auch das BRICS-Konstrukt in dieser Matrix-Logik zu verstehen und widerspricht den klassischen Mustern der Weltpolitik. In einer solchen Vielfältigkeit kann auch der indische Premierminister Narendra Modi die BRICS-Staaten auffordern, kritische Rohstoffe nicht als Waffen zu gebrauchen. So passiert es, dass morgen nebensächliche Themen von heute entscheidend sein können (vgl. Spin Politics). So hatte man in den 2000er-Jahren die Produktion und die Weiterverarbeitung von Seltener Erde in den USA nach der Optimierungslogik in das Niedriglohnland China ausgelagert mit dem Effekt, dass heute der F-35 Kampfjet von Lockheed Martin ohne chinesische Seltene Erde gar nicht abheben kann.
Unterschätzt zu werden und nicht schubladisiert zu sein, ist somit Teil der Strategie.
Dr. Remo Reginold & Dr. Urs Vögeli