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Droht Afghanistan erneut ein sicherer Hafen für transnationale Terroristen zu werden?

KABUL

Dezember 2020


In einer am 29. Februar 2020 unterzeichneten historischen Vereinbarung mit den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) verpflichteten sich die Taliban, keiner Gruppe oder Einzelpersonen – inklusive al-Qaida – zu erlauben, von afghanischem Boden aus die USA oder ihre Verbündeten zu bedrohen. Seither in Afghanistan gesammelte Informationen — einige davon exklusiv vom Swiss Institute for Global Affairs (SIGA) — deuten jedoch darauf hin, dass die Taliban keine Absicht haben, mit militanten Gruppen mit transnationaler Agenda zu brechen oder deren Aktivitäten in Afghanistan zu unterbinden, sondern versuchen, solche Gruppen zu kontrollieren. Es ist jedoch zweifelhaft, ob die Taliban solche ausländische Kämpfer effektiv kontrollieren wollen oder können. Dementsprechend besteht die Gefahr, dass Afghanistan erneut ein sicherer Hafen für transnationale Terroristen werden könnte.


Standbild aus einem im Mai 2019 veröffentlichten al-Qaida-Propagandavideo, welches sowohl die Taliban- als auch die al-Qaida-Flagge zeigt, um einen gemeinsam durchgeführten bewaffneten Hinterhalt in Paktika, Afghanistan, anzupreisen.

Inkorrekte Taliban Bestreitungen über die Existenz von ausländischen Kämpfern

Im Juli 2020 versicherte Zabihullah Mujahid (offizieller Sprecher der Taliban) gegenüber dem SIGA-Fellow in Afghanistan per Telefon, dass die Taliban ihre in ihrer Vereinbarung mit den USA abgegeben Anti-Terror-Verpflichtungen bereits erfolgreich umgesetzt hätten. “Allen unseren Mudschahedin [heiligen Kriegern] wurde der Befehl gegeben, dass sie niemandem erlauben, von afghanischem Boden aus andere Länder zu bedrohen und niemand wird von einer von hier ausgehenden Bedrohung zu Schaden kommen, inshallah. (…) Gemäss unseren Informationen, gibt es in Gebieten unter unserer Kontrolle auch keine ausländischen Kämpfer [die eine Gefahr für den Westen darstellen könnten],” erklärte er weiter.

 

Dies steht jedoch in starkem Kontrast zu offiziellen und unabhängigen Berichten sowie Aussagen von einigen Taliban-Fusssoldaten. Diese geben an, dass ausländische Kämpfer und Mitglieder von Gruppen, die von den Vereinten Nationen als Terrororganisationen eingestuft werden, in Afghanistan verbleiben. Ein detaillierter Bericht der Vereinten Nationen behauptete gar, dass im Jahre 2019 und Anfang 2020, mehrere Treffen zwischen hochrangigen Taliban und al-Qaida-Mitgliedern stattgefunden hätten, um “die Zusammenarbeit betreffend Operationsplanung, Training und die Zurverfügungstellung von sicheren Häfen für al-Qaida in Afghanistan durch die Taliban zu diskutieren.”

 

Dass sich ausländische militante Islamisten in der Tat immer noch in Afghanistan aufhalten, wurde kürzlich durch die Tötungen mehrerer solcher Männer bestätigt. Im Oktober 2020 wurde der Ägypter Hussam Abdur-Rauf, auch bekannt als Abu Mohsin al-Masri, von afghanischen Regierungskräften in Andar, einem in der südwestlich von Kabul gelegenen Provinz Ghazni gelegenen Distrikt, getötet. Während Hussam Abdur-Rauf ein Mitglied von al-Qaida war, war seine genaue Beziehung zu dieser Terrororganisation im Zeitpunkt seines Todes nicht vollständig klar. Namentlich gab ein ehemaliger hochrangiger CIA-Mitarbeiter an, dass Hussam Abdur-Rauf sich bis zu einem gewissen Grade von al-Qaida entfernt hatte. Nicht viel später, am oder um den 2. November 2020 wurde Mohammad Hanif, ein aus der pakistanischen Stadt Karachi stammender Mann und angebliches Mitglied von al-Qaidas regionalem Ableger, al-Qaida auf dem indischen Subkontinent, in einem im in der westafghanischen Provinz Farah befindlichen Distrikt Bakwa durchgeführten Raid von afghanischen Regierungstruppen getötet. Am 10. oder 11. November 2020 wurde sodann Aziz Yo’ldosh, ein usbekischer Staatsbürger und der Sohn des verstorbenen Tohir Yo’ldosh, eines der Mitbegründer der von den Vereinten Nationen als Terrororganisation designierten Islamischen Bewegung Usbekistans (gewöhnlich unter dem englischen Namen Islamic Movement of Uzbekistan (IMU) bekannt), im Distrikt Ghormach in der nordafghanischen Provinz Faryab von unbekannten Männern umgebracht. Während nicht viel über die Tötung der genannten ausländischen Islamisten in Afghanistan sowie deren Beziehung zu den Taliban bekannt ist, wurde SIGA von mehreren Quellen bestätigt, dass alle in von Taliban gehaltenen Gebieten in Afghanistan umgebracht worden waren; einige der Quellen waren Einheimische ohne Verbindungen zur Regierung und daher kaum befangen. Darüber hinaus blieben die Taliban, welche üblicherweise schnell jegliche Berichte, die ein negatives Licht auf die Taliban werfen könnten, als falsche feindliche Propaganda verurteilen, in den genannten Fällen verdächtig still.

Bild des angeblichen al-Qaida-Mitgliedes Hussam Abdur-Rauf nach seiner Tötung durch afghanische Regierungskräfte in Andar, Ghazni, Afghanistan, im Oktober 2020 (Quelle: Afghanistans Nationales Direktorate für Sicherheit (NDS))

In Anbetracht des Gesagten verbleiben kaum Zweifel, dass offizielle Taliban-Erklärungen die Situation betreffend sich in Afghanistan aufhaltenden ausländischen Kämpfern falsch darstellen — was wiederum Fragen über die Ernsthaftigkeit der Taliban aufwirft, transnationale Terroristen daran zu hindern, in Afghanistan zu operieren. [1]

Die interne Taliban Position: Kontrolle von ausländischen Kämpfern

In der Tat deuten in den vergangenen Monaten gesammelte Informationen darauf hin, dass die Taliban keine Absicht haben, sich von ausländischen Kämpfern zu distanzieren, sondern offenbar versuchen, solche Kämpfer unter ihre Kontrolle zu bringen. Dies zeigt sich beispielsweise in einem von Ehsanullah Ehsan, einem ehemaligen Sprecher der Tehrik-e Taliban Pakistan (TTP) und deren Splittergruppe Jamaat ul-Ahrar, am 13. September 2020 getweeteten, in Pashto abgefassten Dokumentes, welches angeblich von den afghanischen Taliban ausgestellt worden war. [2]


Bilder von zwei Seiten eines offenbaren Taliban-Dokumentes mit dem Titel “Instruktionen für die Kontrolle und Aufsicht von Flüchtlingen”

Das Dokument trägt den Titel “Instruktionen für die Kontrolle und Aufsicht von Flüchtlingen”, wobei der Ausdruck “Flüchtling” echte Flüchtlinge meinen kann, jedoch von den Taliban auch für ausländische Kämpfer verwendet wird. Der Inhalt des genannten Dokuments besteht sodann aus drei Teilen. Im ersten Teil wird ausgeführt, dass eine spezielle Abteilung der nachrichtendienstlichen Kommission der Taliban für “die Registrierung und Kontrolle von Flüchtlingen aus den [pakistanischen] Stammesgebieten sowie ausländischen Mudschahedin, deren Versorgung, Training, und die Verhinderung von ungewollten/unangenehmen Ereignissen/Unfällen” verantwortlich sei. Der zweite Teil bestimmt sodann, dass alle “Flüchtlinge aus den Stammesgebieten” sowie alle “ausländischen Mudschahedin” sich bei den Taliban registrieren sowie diesen Treue schwören müssen und diese sodann eine Identitätskarte erhalten würden. Der dritte und umfangreichste Teil trägt den Titel “Bedingungen für den Aufenthalt von Flüchtlingen und [ausländischen] Mudschahedin [in Afghanistan]” und besteht aus einer Reihe von Bestimmungen, die ausführen, was solchen Flüchtlingen und ausländischen Kämpfern erlaubt ist und was nicht. Von der Perspektive von internationalen Anti-Terror-Bemühungen betrachtet, sind die folgenden Bestimmungen am bemerkenswertesten:

  • “[Flüchtlinge und ausländische Mudschahedin dürfen] sich nicht in die Gelegenheiten anderer Nationen einmischen und dürfen nur in Afghanistan Dschihad [Heiligen Krieg] führen” (Ziffer 8),
  • “[Flüchtlinge und ausländische Mudschahedin] dürfen unter keinen Umständen die Regierung oder die Bürger von anderen Ländern bedrohen” (Ziffer 10); und
  • “[Flüchtlingen und ausländische Mudschahedin] ist es nicht erlaubt, lokale Leute oder Leute aus anderen Ländern zu rekrutieren oder diese aufzunehmen” (Ziffer 23). Nachfolgende Bestimmungen relativieren dies implizit, in dem sie ausführen, unter welchen Umständen Kämpfer, die neu in Afghanistan ankommen, erlaubt wird zu bleiben.

Betreffend des genannten Dokumentes ist festzuhalten, dass die Quelle, die es getweetet hat, eine fragwürdige Vergangenheit hat. Im Frühling 2017 geriet Ehsanullah Ehsan in pakistanische Gefangenschaft, wobei verschiedene Quellen sich betreffend den Umständen seiner Gefangennahme widersprachen. Gemäss pakistanischen Beamten hatte Ehsanullah Ehsan sich ergeben; ein Sprecher von Jamaat ul-Ahrar insistierte jedoch, dass Ehsanullah Ehsan in der afghanischen Provinz Paktika gefangengenommen und später pakistanischen Sicherheitskräften übergeben worden sei. Wie dem auch sei, gelang es Ehsanullah Ehsan Anfang 2020 angeblich zu flüchten, wobei die Umstände seiner Flucht ebenfalls ähnlich verworren sind und nicht verifiziert werden konnten. Dementsprechend ist Ehsanullah Ehsan nicht die glaubwürdigste Quelle.

 

Ein ehemaliger afghanischer Aufständischer, der nach wie vor Kontakte zu seinen vormaligen Waffenbrüdern unterhält, bestätigte gegenüber SIGA jedoch exklusiv, dass das fragliche Dokument echt sei. Spezifisch gab der Mann an, dass ein Freund ihm eine originale Kopie des fraglichen Dokuments gezeigt hätte, die den offiziellen Stempel der Taliban getragen habe. Während die Aussagen des ehemaligen Aufständischen nicht durch andere Quellen überprüft werden konnten, führte Andrew Watkins, der für Afghanistan zuständige Analyst der International Crisis Group, aus, dass der Inhalt des Dokumentes “seit Februar 2019 auftauchenden Berichten ähnelt, gemäss denen die Taliban versuchen, ausländische Kämpfer zu verfolgen und diesen Bestimmungen aufzuerlegen.”

 

Ein solches Beispiel wurde auch vom genannten ehemaligen afghanischen Aufständischen berichtet. Gemäss diesem hätte eine Taliban-Delegation bereits Ende Mai oder Anfang Juni 2020 den entlegenen, in der ostafghanischen Provinz Nuristan befindlichen Distrikt Kamdesh besucht, um den sich dort aufhaltenden, angebliche mit al-Qaida in Verbindung stehenden ausländischen Kämpfern gewisse Bedingungen mitzuteilen, die sie befolgen müssen, falls sie in Afghanistan verbleiben wollen. Die wichtigsten dieser Bestimmungen waren, dass ausländische Kämpfer die Taliban über ihren Aufenthaltsort informieren müssen und es ihnen nicht erlaubt ist, ohne Bewilligung der Taliban Operationen auszuführen.

 

Dass die Taliban versuchen, ausländische Kämpfer in Afghanistan zu kontrollieren und diesen Restriktionen aufzuerlegen, ist nichts Neues. In der Tat hatten die Taliban bereits Anfang 2000, vor dem Sturz ihres Regimes nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001, den damals in Afghanistan befindlichen ausländischen Kämpfern 13 Bedingungen gestellt. Diese 13 Bedingungen beinhalteten, dass ausländische Kämpfer sich bei den Taliban registrieren mussten und es ihnen nicht erlaubt war, ohne Zustimmung der Taliban Operationen auszuführen —genau dieselben Punkte, die nun wieder aufgetaucht sind. Damals wie jetzt war der Grund für die Ausstellung solcher Bedingungen durch die Taliban offenbar Druck von anderen Staaten, die besorgt waren, dass afghanischer Boden zum Trainieren von transnationalen Terroristen benutzt wird.[3] Der genannte ehemalige Aufständische gab zudem an, dass die Taliban solche Bedingungen in den Jahren seit dem Ende des Taliban-Regimes mehrmals wiederholt hätten.

 

In diesem Zusammenhang ist es wichtig in Erinnerung zu rufen, dass entgegen einiger Aussagen von U.S. Beamten, wonach die Taliban ihre Verbindungen zu transnationalen Terrorgruppen wie al-Qaida brechen müssen (cf. Aussage von U.S. Aussenminister Mike Pompeo), zumindest der öffentlich verfügbare Haupttext der U.S.-Taliban Vereinbarung keine solche Verpflichtung beinhaltet. Demnach würden die Taliban, falls sie in der Lage sein sollten, ausländische Kämpfer effektiv zu kontrollieren und davon abzuhalten, die USA oder ihre Verbündeten zu bedrohen, ihre im Haupttext der genannten Vereinbarung erwähnten Verpflichtungen einhalten, selbst wenn sie nicht vollständig mit ausländischen Kämpfern brechen würden (der Vollständigkeit halber ist zu erwähnen, dass gemäss einem Artikel ein geheimer Anhang der Vereinbarung die Taliban dazu verpflichtet, den selbsternannten Islamischen Staat und al-Qaida öffentlich zu denunzieren; dies konnte jedoch nicht definitiv bestätigt werden und scheint fraglich[4]).

Zweifel über die Ernsthaftigkeit von Taliban-Bemühungen, ausländische Kämpfer zu kontrollieren

Die offenbare Absicht der Taliban, ausländische Kämpfer zu kontrollieren, ist mit zwei Hauptproblemen behaftet. Das erste ist dabei, dass Zweifel bestehen, inwiefern die Taliban ernsthaft versuchen transnationale Terroristen daran zu hindern, andere Länder zu bedrohen. 

Solche Zweifel ergeben sich unter anderem aus dem spezifischen Inhalt einiger der Bestimmungen, die die Taliban offenbar sich in Afghanistan aufhaltenden ausländischen Kämpfern auferlegen. Ziffer 21 des oben zitierten Dokuments führt beispielsweise aus, dass:

 

“[Flüchtlinge und ausländische Mudschahedin] davon absehen müssen, andere Flaggen ausser der Flagge des Islamischem Emirates [von Afghanistan] [Eigenname der Taliban] zu hissen, um Zweifel/Verdacht [Probleme] zu verhindern.”

 

Während der Zweck dieser Bestimmung nicht definitiv festgestellt werden konnte, scheint die naheliegendste Erklärung zu sein, dass die Taliban sicherstellen wollen, dass keine klaren Beweise für die Präsenz einer Gruppe in Afghanistan vorliegen, so dass sie — falls die Aktivitäten einer Gruppe zu Bedenken oder Beschwerden von anderen Staaten oder der internationalen Gemeinschaft führen sollte — jegliche Verantwortung glaubhaft von sich weisen könnten.

 

Der vorgenannte ehemalige Aufständische erwähnte SIGA gegenüber ein weiteres Beispiel, nämlich dass eine der Bedingungen, die die Taliban den sich in Kamdesh in Nuristan aufhaltenden ausländischen Kämpfern gegeben hätten, letzteren die Verwendung von afghanischen SIM-Karten untersage. Dies kann schwerlich anders interpretiert werden, als dass die Taliban verhindern wollen, dass ausländische Kämpfer Spuren in Telefonverbindungsdaten hinterlassen, die die Taliban negativ implizieren könnten.

 

Die genannten Beispiele deuten darauf hin, dass den Taliban bewusst ist, dass sich in Afghanistan aufhaltende ausländische Kämpfer gegen andere Staaten vorgehen könnten, es ihnen jedoch wichtiger zu sein scheint, sicherzustellen, dass keine Beweise nach Afghanistan oder zu den Taliban führen, anstatt sich darauf zu konzentrieren, zu verhindern, dass ausländische Kämpfer Probleme verursachen, oder sich ganz von diesen und deren Gruppen zu distanzieren.

Fragen Betreffend der Fähigkeit der Taliban ausländische Kämpfer zu kontrollieren

Selbst wenn die Taliban ernsthaft versuchen sollten, ausländische Kämpfer effektiv zu kontrollieren und diese davon abzuhalten, andere Nationen zu bedrohen, ist das zweite Hauptproblem, dass es fragwürdig ist, ob und inwiefern die Taliban dazu in der Lage wären. Dies zeigt sich wohl am klarsten in der Tatsache, dass die 13 Bestimmungen, die die Taliban im Jahre 2000 — nota bene am Höhepunkt ihrer Macht — den damals in Afghanistan anwesenden ausländischen Kämpfern auferlegt hatten, nicht vermochten, al-Qaida-Anführer, die damals in Afghanistan Zuflucht fanden, davon abzuhalten, die Terroranschläge vom 11. September 2001 anzuordnen.

 

Betreffend der derzeitigen Situation und soweit SIGA bestimmen konnte, gibt es nur ein potentielles Beispiel für konkrete Bemühungen der Taliban definitiv sicherzustellen, dass sich in Afghanistan aufhaltende ausländische Kämpfer niemanden bedrohen können. Genauer gesagt versicherte ein Afghane, der anonym bleiben wollte, SIGA gegenüber, dass die Taliban gemäss lokalen Quellen Kämpfer aus Usbekistan, die sich im in der nordafghanischen Provinz Faryab gelegenen Ghormach aufhalten, entwaffnet hätten. Dies betraf offenbar auch den kürzlich getöteten Aziz Yo’ldosh. Während SIGA dies nicht durch andere Quellen bestätigen konnte, erklärte ein Mitarbeiter des Nationalen Direktorats für Sicherheit (NDS), Afghanistans Geheimpolizei, dass er die Berichte über die Entwaffnung von aus Usbekistan stammenden Kämpfern durch die Taliban in Ghormach für möglich halte. Der genannte NDS-Mitarbeiter fügte zudem an, dass die Taliban in Ghormach sich gegen die Absichten der usbekischen Kämpfer in Ghormach stellen würden, direkt Usbekistan zu bedrohen oder zumindest Operationen entlang der afghanisch-usbekischen Grenze zu intensivieren.

Angebliches Photo des usbekischen Extremistenführers Aziz Yo’ldosh, Datum und Ort unbekannt
(Quelle: https://twitter.com/bsarwary/status/1326812974665912320)

Wie effektiv die angebliche, jedoch nicht definitiv bestätigte Entwaffnung von Kämpfern aus Usbekistan in Ghormach war, blieb unklar. Die Ermordung des laut der Quelle ebenfalls entwaffneten Aziz Yo’ldosh in einem von Taliban kontrollierten Gebiet macht es — obwohl die Täter, genauen Umstände, und Motive nicht festgestellt werden konnten — jedoch umso wahrscheinlicher, dass sich ausländische Kämpfer gegen eine Entwaffnung oder andere einschneidende Kontrollen widersetzen würden. Dies wiederum wirft Fragen auf, inwiefern die Taliban die Entwaffnung von ausländischen Kämpfern oder andere Massnahmen strikt durchsetzen können, wenn sich diese dezidiert dagegen wehren sollten. Während Taliban-Operationen, die zur Zerschlagung von Gruppen des selbsternannten Islamischen Staates in Ost-Afghanistan führten, zeigen, dass die Taliban Massnahmen wenn erforderlich mit Gewalt durchsetzen könnten, ist es zweifelhaft, dass sie dies gegen andere Gruppen und deren ausländischen Kämpfer machen würden. Dies ergibt sich aus dem Umstand, dass die Taliban aus ideologischen und anderen Gründen zwar den selbsternannten Islamischen Staat ablehnen und offen bekämpfen, jedoch nicht andere ausländische Kämpfer oder deren Gruppen, die sich mit den Taliban verbünden. In diesem Zusammenhang stellte die genannte afghanische Quelle auch klar, dass das Verhalten der Taliban gegenüber ausländischen Kämpfern in Ghormach die Ausnahme und nicht die Regel sei und die Taliban nahe “brüderliche” Beziehungen zu ausländischen Kämpfern in anderen Teilen des Landes pflegen würden. [5]

 

Im Allgemeinen scheinen die Versuche der Taliban, ausländische Kämpfer mit der Auferlegung von Bestimmungen effektiv davon abhalten zu können, andere Staaten zu bedrohen, auch an einem inhärent logischen Problem zu leiden. Während einige ausländische Islamisten unter Umständen nur danach streben, unter einer von den Taliban geführten islamischen Regierung in Afghanistan zu leben, haben allermindestens eine beträchtliche Anzahl und wahrscheinlicher die meisten solcher Islamisten höhere Ambitionen — sei es die Schaffung eines transnationalen Kalifats oder der Umsturz von ihrer Ansicht nach unislamischen Regierungen in ihren Heimatländern, zu denen sie in Propagandaerklärungen offen aufrufen. Dementsprechend würden Massnahmen, welche ausländische Kämpfer effektiv daran hindern würden, andere Staaten zu bedrohen, solche ausländischen Kämpfer ihrer raison d’être berauben — was es unwahrscheinlich macht, dass sie die von den Taliban auferlegten Bestimmungen, die sie davon abhalten würden, die genannten Ambitionen zu verwirklichen, je ernsthaft befolgen würden und dies sie schliesslich mit den Taliban in Konflikt bringen würde. Ehsanullah Ehsan, der ehemalige Sprecher der TTP und Jamaat ul-Ahrar erwähnte dies in einem am 15. September 2020 veröffentlichten Blog-Beitrag explizit für das Beispiel der TTP, deren Hauptziel der Umsturz des pakistanischen Staates ist. [6]

Was ein sicherer Hafen für militante Islamisten in Afghanistan bedeuten würde

Das oben Ausgeführte deutet daraufhin, dass Afghanistan wohl erneut ein sicherer Hafen für militante Islamisten, inklusive solcher mit transnationaler Agenda, werden könnte, falls die Taliban erneut die Macht in Afghanistan übernehmen sollten. Wie gross die davon ausgehende Bedrohung für andere Staaten ist, ist schwer einzuschätzen. Diese wird von vielen Analysten jedoch wohl zumindest bis zu einem gewissen Grade übertrieben (für ein Beispiel einer solchen Übertreibung und deren Relativierung, siehe diese eingehende Studie zu uyghurischen Kämpfern in Badakhshan). 

 

Im Allgemeinen ist diesbezüglich daran zu erinnern dass al-Qaida für die Planung der Anschläge vom 11. September 2001 zwar ohne Zweifel von ihrem damaligen Refugium in Afghanistan profitierte, Orte ausserhalb Afghanistan für die Durchführung dieser Anschläge jedoch eine mindestens ebenso wichtige Rolle spielten (für Einzelheiten siehe The 9/11 Commission Report). Darüber hinaus und wohl wichtiger ist zu beachten, dass al-Qaida im Jahre 2001 und im Gegensatz zu heute den Umstand, dass transnationale Anti-Terror-Bemühungen damals lascher waren, ausnutzen konnte. Des Weiteren ist ebenfalls zu berücksichtigen, dass Terroristen mit transnationaler Agenda derzeit wohl auch andere sichere Häfen in Ländern wie Syrien, Yemen, oder Libyen haben, wo keine grosse internationale Militärpräsenz existiert und dass es daher fraglich ist, ob ein sicheres Refugium für transnationale Terroristen in Afghanistan die globale Bedrohungslage vollständig ändern würde.

 

Nichtsdestotrotz würde ein kompletter Abzug von internationalen Streitkräften aus Afghanistan das Risiko, dass Terroristen mit transnationaler Agenda erneut afghanischen Boden nutzen könnten, um sich zu verstecken und Anschläge zu planen sowie für solche zu trainieren, wohl bedeutend erhöhen. Da nach beinahe 20 Jahren einer U.S.-geführten Intervention jedoch wenig Interesse daran besteht, eine grossangelegte Anti-Terror-Mission in Afghanistan auf unbestimmte Zeit weiterzuführen und Erfolgsaussichten für derzeitige U.S.-Versuche, die Taliban zur Durchsetzung von Anti-Terror-Massnahmen zu bewegen, wie oben ausgeführt und zumindest in der derzeitigen Form, zweifelhaft sind, stellt sich die Frage, wie das von sich in Afghanistan befindlichen transnationalen Terrorgruppen ausgehende Risiko anderweitig vermindert werden könnte. Dies gilt umso mehr als solche transnationalen Terrorgruppen in naher Zukunft kaum je aus Afghanistan verschwinden werden. [7]

 

Eine mögliche Alternative könnte sein, die Taliban unter Druck zu setzen, ihre derzeitige Position zu ändern. Da die Anwendung von militärischem Druck während der vergangenen beinahe 20 Jahre die gewünschten Resultate nicht erzielen konnte, müsste wohl politischer Druck angewandt werden. Dieser könnte darin bestehen, den Taliban klar zu machen, dass sie — wie während ihrer Regentschaft in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre — erneut international geächtet werden würden, wenn sie ihre Einstellung gegenüber ausländischen Kämpfern nicht ändern. Während nicht ausgeschlossen werden kann, dass die USA dies derzeit in hinter verschlossenen Türen stattfindenden Gesprächen mit den Taliban machen, bestehen angesichts des offensichtlichen U.S. Wunsches, Afghanistan eher früher als später zu verlassen, und der Anzahl Konzessionen, die die USA und die internationale Gemeinschaft den Taliban bereits gegeben haben, Zweifel, ob dies der Fall ist — was wiederum bedeutet, dass die Taliban ihre Zusammenarbeit mit ausländischen militanten Islamisten, die derzeit in Afghanistan sind, wohl weiterführen werden.

Franz J. Marty


[1] Teile dieses Abschnittes wurden in detaillierterer Form bereits in einem von The Diplomat am 10. August 2020 publizierten Artikel veröffentlicht.

 

[2] Der fragliche Tweet ist nicht mehr online, da das entsprechende Twitter-Konto suspendiert worden ist; eine elektronische Kopie des Tweets ist im Besitz von SIGA.

 

[3] Für weitere Einzelheiten über vor der U.S.-geführten Intervention Ende 2001 verfolgte Taliban-Bemühungen, sich in Afghanistan aufhaltende ausländische Kämpfer zu kontrollieren, siehe Anne Stenersen, Al-Qaida in Afghanistan, Kapitel 6 Taliban’s Policies toward the Arabs, Untertitel Taliban’s Thirteen Points.

 

[4] Der erwähnte Artikel wurde am 26. Mai 2020 von The New York Times veröffentlicht und führt aus, dass “die wohl einzige klare, in einem der geheimen Anhänge befindliche Bedingung der Februar-Vereinbarung ist, dass die Taliban sich vor dem vollständigen [U.S.] Truppenabzug vom Islamischen Staat sowie al-Qaida öffentlich lossagen müssen.” Da die genannten Anhänge klassifiziert sind, konnte dies weder bestätigt noch widerlegt werden. Ein später publizierter offizieller U.S. Bericht zitierte jedoch eine Erklärung der U.S. Defense Intelligence Agency, die ausführt, dass sich die Taliban gemäss der genannten Vereinbarung nicht öffentlich von al-Qaida lossagen müssen. Es wäre auch generell seltsam, dass die öffentlich bekannten Anti-Terror-Garantien im Haupttext der Vereinbarung offenbar bewusst vage gehalten worden sind, während sich die Taliban in einem geheimen Anhang zu einem klaren Bruch mit dem selbsternannten Islamischen Staat sowie al-Qaida verpflichtet haben sollen. Die Tatsache, dass der zitierte Artikel angibt, dass die Taliban sich “öffentlich” vom selbsternannten Islamischen Staat sowie al-Qaida lossagen müssen, scheint die potentielle Argumentation zu widerlegen, dass dies in einem klassifizierten Anhang eingebracht wurde, um dies nicht veröffentlichen zu müssen und den Taliban die Möglichkeit zu geben, sich im Geheimen von den genannten Gruppen zu distanzieren und so eine Schädigung ihres dschihadistischen Rufes gewährleisten zu können. Dementsprechend ist es fraglich, ob eine solche Verpflichtung existiert.

 

[5] Eines von mehreren von der Quelle angeführtes Beispiel war die nordöstliche Provinz Badakhshan. Die guten Beziehungen der einheimischen Taliban mit sich in Badakhshan aufhaltenden ausländischen Kämpfern wurde dabei auch von anderen Quellen dokumentiert (siehe zum Beispiel diese eingehende Studie zu uyghurischen Kämpfern in Badakhshan) und es gibt keine Anzeichen, dass die Taliban dies zu ändern gedenken.

 

[6] Der genannte Blog-Beitrag ist nicht mehr online; eine elektronische Kopie des Textes ist im Besitz von SIGA

 

[7] Dass Terrorgruppen wie al-Qaida realistisch betrachtet in voraussehbarer Zukunft in Afghanistan verbleiben werden, wurde kürzlich von einem hochrangigen Beamten des U.S. Verteidigungsministeriums eingeräumt. Dieser sagte in einem am 17. November 2020 stattgefundenen Briefing namentlich dass “al-Qaida seit Jahrzehnten in Afghanistan ist und dass es Realität ist, dass wir Narren wären zu sagen, dass sie morgen gehen würden.”