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Der prekäre Zustand von Friedensbemühungen in Afghanistan

KABUL

März 2021

Die Unterzeichnung der historischen «Vereinbarung zur Bringung von Frieden in Afghanistan» zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und den Taliban am 29. Februar 2020 (nachfolgend U.S.-Taliban Vereinbarung) weckte Hoffnungen auf eine friedliche Beendigung des Jahrzehnte alten Konfliktes in Afghanistan. Ein Jahr später bleibt jedoch wenig von diesen Hoffnungen übrig und laufende Friedensbemühungen sind praktisch zum Stillstand gekommen. In einem Versuch, die derzeitige Blockade zu überwinden, haben die Vereinigten Staaten von Amerika kürzlich einen neuen Ansatz vorgeschlagen: eine grosse Konferenz, die zu einer afghanischen Übergangsregierung führen soll. Die Chancen für eine solche Lösung sind jedoch ebenfalls gering, unter anderem da die Taliban klar gemacht haben, an der U.S.-Taliban Vereinbarung festhalten zu wollen. Das Swiss Institute for Global Affairs (SIGA) gibt einen Überblick über die Bemühungen für Frieden in Afghanistan und zeigt, dass weit auseinanderfallende Interpretationen der U.S.-Taliban Vereinbarung Kernprobleme verkörpern, die schwerlich mit dem vorliegenden neuen amerikanischen Vorschlag gelöst werden können.


Der amerikanische Sondergesandte für Versöhnung in Afghanistan Zalmay Khalilzad und der Taliban-Vertreter Mullah Baradar unterzeichnen die U.S.-Taliban Vereinbarung in Doha, Qatar, 29. Februar 2020 (U.S. State Department Photo von Ron Przysucha / Public Domain

Friedensbemühungen in Afghanistan — Ein Überblick

Am 29. Februar 2020 unterzeichneten die Vereinigten Staaten von Amerika und die Taliban, nachdem sie sich über 18 Jahre als Kriegsgegner gegenüberstanden, die «Vereinbarung zur Bringung von Frieden in Afghanistan». Im Kern sieht die U.S.-Taliban Vereinbarung vor, dass die Vereinigten Staaten von Amerika und ihre Alliierten im Gegenzug für Anti-Terror-Garantien der Taliban, die sicherstellen sollen, dass Afghanistan nicht erneut ein sicherer Zufluchtsort für transnationale Terroristen wird, alle Truppen aus Afghanistan abziehen.

Darüber hinaus verpflichtet die U.S.-Taliban Vereinbarung die Taliban dazu, intra-afghanisch Verhandlungen mit anderen afghanischen Parteien zu beginnen; die derzeitige afghanische Regierung, die die andere afghanische Hauptpartei ist, wurde in einer offensichtlichen Konzession an die Taliban nicht ausdrücklich genannt. Diese intra-afghanischen Verhandlungen sollen gemäss der U.S.-Taliban Vereinbarung sodann zu einem «zukünftigen politischen Plan für Afghanistan» sowie einer Friedensvereinbarung folgenden «neuen islamischen afghanischen Regierung» führen. Des Weiteren erwähnt die U.S.-Taliban Vereinbarung, dass ein «permanenter und umfassender Waffenstillstand» ein Punkt auf der Agenda intra-afghanischer Verhandlungen sein soll.

Während intra-afghanischen Verhandlungen gemäss U.S.-Taliban Vereinbarung am 10. März 2020 hätten beginnen sollen, starteten diese erst am 12. September 2020. Die sechs-monatige Verspätung war dabei hauptsächlich auf Streitigkeiten über einen in der U.S.-Taliban Vereinbarung vorgesehenen Gefangenenaustausch zurückzuführen. Die Verhandlungen waren aber auch danach von Problemen geplagt. So brauchten die Taliban und das von der afghanischen Regierung geführte andere Verhandlungsteam ungefähr drei Monate, um sich auf prozedurale Regeln für die eigentlichen Verhandlungen zu einigen. Und während die Parteien nach einem Unterbruch Ende Dezember 2020 die eigentliche Agenda für weitere Verhandlungen hätten festlegen sollen, kam es im Jahre 2021 bisher nur zu wenigen Treffen. Die Verhandlungen sind mehr oder weniger zum Stillstand gekommen. Ein Hauptgrund für den fehlenden Fortschritt in 2021 war, dass alle involvierten Seiten abwarteten, ob die neue amerikanische Regierung ihren Kurs ändern würde.

Trotz einer immer näherrückenden Frist — die U.S.-Taliban Vereinbarung sieht vor, dass, sofern gewisse Bedienungen erfüllt worden sind, alle amerikanischen und alliierten Truppen bis Ende April 2021 aus Afghanistan abziehen sollten — hat die neue amerikanische Regierung bisher keine offizielle Entscheidung betreffend Afghanistan angekündigt. In den ersten März-Tagen tauchten jedoch Berichte und Dokumente (siehe hier und hier) auf, die einen neuen U.S. Vorschlag ausführten, namentlich die Abhaltung einer Konferenz, an der die höchsten Führungsriegen der Taliban, der afghanischen Regierung, sowie anderer afghanischer Parteien unter der Leitung der Vereinten Nationen teilnehmen sollen, wobei eine solche Konferenz zur Formierung einer Übergangsregierung führen soll und amerikanische und alliierte Truppen zumindest in der ersten Phase dieses Überganges in Afghanistan verbleiben würden (für Einzelheiten siehe diesen Bericht). Ein solcher Plan würde die U.S.-Taliban Vereinbarung sowie intra-afghanische Verhandlungen praktisch annullieren und ersetzen.

Während dies die verfahrene Lage sicher aufgerüttelt hat, hat dieser neuste amerikanische Vorschlag wenig Aussicht auf Erfolg, da sich sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung gegen eine Übergangsregierung stellen. Zum Beispiel sagte der afghanische Präsident Ashraf Ghani Ende Februar 2021, dass die Taliban, solange er leben würde, keine Übergangsregierung sähen würden; sein erster Vizepräsident wiederholt in einer Rede am 8. März 2021 ähnliches. Auf der anderen Seite erklärte der Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid Anfang März 2021, dass die Taliban gegen eine Übergangsregierung seien und dass es «anstelle des Vorschlagens von neuen Ideen, wichtig ist, die Verpflichtungen der [U.S.-Taliban] Vereinbarung zu implementieren.»[1] Ein anderer Taliban-Sprecher beschrieb die Idee einer Übergangsregierung später sodann als einen in der Vergangenheit «versuchten, gescheiterten» Ansatz.

Angesichts des Erwähnten erscheint die U.S.-Taliban Vereinbarung — obwohl diese aufgrund des neuen amerikanischen Vorschlages in den meisten Berichten bereits mehr oder weniger als überholt angesehen wird — immer noch der Dreh- und Angelpunkt von Bemühungen für Frieden in Afghanistan zu sein. Dies ergibt sich aus dem Umstand, dass diese Vereinbarung immer noch das einzige Dokument betreffend derzeitigen Friedensbemühungen ist, welches von sich gegenüberstehenden Parteien verhandelt und unterzeichnet worden ist, und da die Taliban klar gemacht haben, dass sie nicht damit einverstanden sind, dass die U.S.-Taliban Vereinbarung einfach zur Seite geschoben wird. Darüber hinaus würde ein effektiver oder behaupteter Bruch der U.S.-Taliban Vereinbarung durch eine Partei es der anderen ermöglichen, die andere Seite für den Zusammenbruch von Friedensbemühungen in Afghanistan verantwortlich zu machen. Dementsprechend, hat SIGA die U.S.-Taliban Vereinbarung und deren Probleme genauer unter die Lupe genommen und führt nachfolgend aus, was dies für die zerbrechlichen Friedensbemühungen in Afghanistan bedeutet.

Der dringlichste Punkt — Unterschiedliche Interpretationen über einen vollständigen amerikanischen und alliierten Truppenabzug

Trotz zahlreicher Berichte über den neuen amerikanischen Vorschlag ist die derzeit für die Erfolgschancen von Friedensbemühungen brennendste Frage nach wie vor, ob alle amerikanischen und alliierten Truppen, wie im Falle der Erfüllung gewisser Bedingungen von der U.S.-Taliban Vereinbarung vorgesehen, bis Ende April 2021 aus Afghanistan abziehen werden oder nicht. In der Tat haben die Taliban in den letzten Wochen bereist impliziert, dass sie das Ausbleiben eines solchen Truppenabzuges bis Ende April 2021 als eine signifikante Zuwiderhandlung der U.S.-Taliban Vereinbarung, wenn nicht gar deren effektive Annullierung sehen würden (siehe beispielsweise hier, hier, und hier). Dies gesagt, ist es unwahrscheinlich, dass die Taliban von dieser Forderung für einen zeitnahen vollständigen Truppenabzug abweichen werden; dies gilt selbst wenn sie von ihren derzeitigen Aussagen Abstand nehmen und für den neusten amerikanischen Vorschlag einer Übergangsregierung offen sein sollten, wofür derzeit keine Anzeichen bestehen.

U.S. Marines und Matrosen der U.S. Marine Expeditionary Brigade — Afghanistan verlassen die südafghanische Provinz Helmand, 27. Oktober 2014; bereits damals wollten die Vereinigten Staaten von Amerika ihre Truppen aus Afghanistan abziehen, blieben dann aber trotzdem im laufenden Konflikt, auch wieder in Helmand, stecken. (U.S. Marine Corps Photo von Staff Sgt. John Jackson / Public Domain

Ob die Vereinigten Staaten von Amerika und ihre Alliierten alle ihre Truppen bis Ende April 2021 aus Afghanistan abziehen müssen, hängt jedoch davon ab, ob die Bedingungen, an welche die U.S.-Taliban Vereinbarung den Truppenabzug knüpft, erfüllt sind oder nicht. Strikt ausgelegt macht der Text der U.S.-Taliban Vereinbarung den Truppenabzug lediglich von der Erfüllung der Anti-Terror-Verpflichtungen der Taliban abhängig (siehe Teil 1, Littera B der U.S.-Taliban Vereinbarung). Eine weitere Interpretation würde hingegen hervorheben, dass der Truppenabzug laut Präambel der U.S.-Taliban Vereinbarung nicht nur von den Anti-Terror-Verpflichtungen, sondern auch vom Status von intra-afghanischen Verhandlungen und Gesprächen über einen Waffenstillstand abhängig ist.

Nicht überraschend propagieren die Taliban die enge Auslegung und behaupten gar, dass sie bereits alle Anti-Terror-Garantien umgesetzt hätten und amerikanische und alliierte Truppen deshalb bis Ende April 2021 abziehen müssten. Konkret gab der Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid am 19. Juli 2020 an, dass eine Erklärung des Taliban-Emirs Haibatullah, die kurz nach der Unterzeichnung der U.S.-Taliban Vereinbarung am 29. Februar 2020 veröffentlicht worden war, bereits die Erfüllung der Anti-Terror-Garantien der Taliban darstelle. Diese Erklärung enthält aber nur eine allgemeine Anordnung, wonach alle Taliban alle Teile der U.S.-Taliban Vereinbarung einhalten müssen, jedoch keine Einzelheiten über die Anti-Terror-Massnahmen der Taliban. Fast ein Jahr später, namentlich am 13. Februar 2021 führte ein offizielles Taliban-Communiqué sodann aus, dass seit der Unterzeichnung der U.S.-Taliban Vereinbarung kein amerikanischer Soldat im Kampf in Afghanistan getötet worden sei und dass «keine Gruppe von afghanischem Territorium aus, Schritte gegen die Vereinigten Staaten von Amerika und ihre Alliierten unternommen hat und dies auch nicht erlaubt sei». Dies würde zeigen, dass die Taliban sich vollständig an die U.S.-Taliban Vereinbarung gehalten hätten (Letzteres ist in einer separaten, in Dari verfassten Erklärung der Taliban besser ersichtlich).

Diese Argumentation der Taliban ist jedoch mehr als fragwürdig. Namentlich beteuern die Taliban seit Jahren, nicht mit transnationalen Terroristen zu kooperieren und dass Kämpfer in Afghanistan keine Bedrohung für andere Länder darstellen. Angesichts dessen ist es selbsterklärend, dass mit den Anti-Terror-Verpflichtungen der U.S.-Taliban Vereinbarung mehr als die Wiederholung allgemeiner Versicherungen gemeint ist. Darüber hinaus lässt die Geschichte der amerikanisch geführten Intervention in Afghanistan im Allgemeinen sowie der Verhandlungen der U.S.-Taliban Vereinbarung im Besonderen keinen Zweifel, dass die Anti-Terror-Verpflichtungen sicherstellen sollen, dass von Afghanistan nicht nur nicht in der nahen, sondern auch in der ferneren Zukunft keine Gefahr für westliche Länder ausgeht. Demgemäss kann die von den Taliban angeführte Tatsache, dass seit der Unterzeichnungen der U.S.-Taliban Vereinbarung es zu keinem von Afghanistan ausgehenden transnationalen Anschlag gekommen sei, für sich allein nicht als Erfüllung der Taliban-Verpflichtungen gesehen werden. Die Taliban müssten vielmehr zusätzlich aufzeigen, wie sie potentielle zukünftige transnationale Bedrohungen verhindern. In diesem Zusammenhang könnte die nicht öffentlich bekannt gegebene, in einem früheren SIGA-Beitrag diskutierte, offenbare interne Taliban Position, sich derzeit in Afghanistan aufhaltende ausländische Dschihadisten zu kontrollieren, rein legalistisch gesehen einer Implementierung der Anti-Terror-Verpflichtungen gleichkommen; wie im genannten SIGA-Beitrag ausgeführt, bestehen jedoch erhebliche Zweifel an der Effektivität eines solchen Taliban-Vorgehens, weshalb diesbezüglich Erklärungsbedarf verbleibt.[2]

Unglücklicherweise ist die diesbezügliche amerikanische Position nicht weniger problematisch als der Standpunkt der Taliban, da die Vereinigten Staaten von Amerika — anstatt die Probleme mit den genannten Taliban-Behauptungen zu benennen und die Taliban an die Bedingungen der U.S.-Taliban Vereinbarung zu halten — die U.S.-Taliban Vereinbarung, zumindest laut dem neuen amerikanischen Vorschlag einer grossen Konferenz, offenbar eher einfach vergessen wollen. Was genau die Logik hinter diesem Vorgehen ist, bleibt unklar.

Eine mögliche Erklärung ist jedoch, dass die neue amerikanische Regierung einen Ausweg aus dem Dilemma sucht, dass intra-afghanische Verhandlungen bisher keinen Erfolg zeitigten und die U.S.-Taliban Vereinbarung, welche die neue amerikanische Regierung von ihrer Vorgängerin geerbt hat, keine klare Lösung für dies offeriert. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass es von Anfang an naiv war zu hoffen, dass sich die diametral entgegenstehenden Ansichten der Taliban und der afghanischen Regierung innerhalb der 14 Monaten zwischen der Unterzeichnung der U.S.-Taliban Vereinbarung und dem anvisierten vollständigen amerikanischen Truppenabzug überbrücken lassen.

Wie dem auch sei, und obwohl ein Anfang März 2021 inoffiziell publizierter Brief des amerikanischen Aussenministers Antony J. Blinken an den afghanischen Präsidenten Ashraf Ghani angibt, dass die Vereinigten Staaten von Amerika immer noch einen vollständigen Truppenabzug bis Ende April 2021 in Betracht ziehen, erscheint ein solcher Abzug höchst unwahrscheinlich. In der Tat ist ein vollständiger Abzug aller amerikanischer und alliierter Truppen aus Afghanistan bis Ende April 2021 angesichts der Tatsache, dass weniger als zwei Monate bis zum Verstreichen dieser Frist verbleiben und in Anbetracht der involvierten Logistik, praktisch kaum mehr durchführbar (während ein Abzug aller amerikanischer Truppen zumindest theoretisch möglich wäre, wäre ein Abzug aller amerikanischer und allierter Streitkräfte nur vorstellbar, wenn die Vereinigten Staaten von Amerika und ihre Alliierten entscheiden würden, alle ihre Soldaten schnell auszufliegen und die meiste Ausrüstung zurückzulassen, was ein mehr als unwahrscheinliches Szenario ist). Dementsprechend werden sich die Vereinigten Staaten von Amerika und die Taliban wohl bald noch mehr auf Konfrontationskurs befinden als bis anhin.

Weitere Probleme - Fragwürdigkeit der Taliban-Haltung

Diese Situation wird weiter durch die Tatsache verschlimmert, dass Zweifel bestehen, ob oder bis zu welchem Grade die Taliban bereit sind, ehrlich Frieden mit anderen afghanischen Parteien zu schliessen. Dies ergibt sich nicht nur aus siegessicheren Propaganda-Erklärungen, die wenige Zeichen für eine zumindest teilweise Kompromissbereitschaft enthalten[3], sondern auch aus kühnen Taliban-Behauptungen, die nicht der Realität entsprechen.

Zum Beispiel behaupten die Taliban, die einräumen sich zu einer Reduktion der Gewalt einverstanden erklärt zu haben, dass sie diese seit der Unterzeichnung der U.S.-Taliban Vereinbarung umgesetzt haben. Namentlich versicherte eine offizielle Taliban-Erklärung zum ersten Jahrestag der Unterzeichnung der U.S.-Taliban Vereinbarung, dass die Taliban «keine Operationen gegen grössere militärische und nachrichtendienstliche Zentren verübt haben, Märtyrer-Operationen suspendiert wurden, keine Provinzen überrannt worden sind und keine Provinzhauptstädte und keine Distriktszentren angegriffen worden sind» und dies der vereinbarten Reduktion der Gewalt gleichkomme (letzteres ist in einer andern Taliban-Erklärung deutlicher ersichtlich). Die Attacken, die die Taliban zugeben, stellen sie sodann als rein defensiv dar, während sie gleichzeitig angebliche offensive Operationen und Luftschläge durch afghanische und amerikanische Regierungstruppen als Verletzung der U.S.-Taliban Vereinbarung beklagen.

Statistiken von diversen Quellen, Berichte aus erster Hand aus diversen Provinzen und gar einige Taliban-Bekennerschreiben widerlegen die genannten Taliban-Behauptungen jedoch. Die erwähnten Quellen zeigen, dass die Taliban seit der Unterzeichnung der U.S.-Taliban Vereinbarung mit der Ausnahme einer Reduktion von grossen Bombenanschlägen in Städten und dem Ausbleiben eines direkten Angriffes auf einen Provinzhauptstadt nicht nur nicht weniger Angriffe, sondern gar erheblich mehr verübt haben, während es demgegenüber in der Tat zu weniger amerikanischen Luftangriffen und offensiven Operationen der afghanischen Regierungstruppen gekommen ist (für eine umfassende Übersicht mit mehr Einzelheiten siehe diesen Artikel).

Taliban betrachten das brennend Büro des Distriktsgouverneurs der afghanischen Regierung für Maimai in der Provinz Badakhshan, nachdem sie dieses während eines Angriffes auf das Distriktszentrum von Maimai in Brand gesteckt hatten,
19. November 2020 (inoffizielles Taliban Propagandavideo geteilt via Telegram)


Ähnlich wie im Zusammenhang mit der Bedingtheit des Truppenabzuges ist die amerikanische Position auch im hier vorliegenden Kontext wenig hilfreich. Während U.S. Beamte mehrmals erklärten, dass das Ausmass von Gewalttaten «zu hoch» sei (siehe zum Beispiel hier und hier), haben sie wenig, wenn überhaupt etwas unternommen, um zu klären, was die vereinbarte Reduktion der Gewalt bedeutet oder spezifische Zuwiderhandlungen der Taliban angeprangert. Obwohl nicht ausgeschlossen werden kann, dass U.S. Beamte entschieden, dass solche Dinge effektiver hinter geschlossenen Türen denn in der Öffentlichkeit besprochen werden, lässt die derzeitige Situation, in der U.S. und Taliban Vertreter betreffend ihrer Interpretation der U.S.-Taliban Vereinbarung aneinander vorbei reden, Zweifel darüber aufkommen, dass dies der Fall war.

(Der Vollständigkeit halber ist anzumerken, dass einige Erklärungen und Handlungen der afghanischen Regierung für laufende Friedensbemühungen ebenfalls alles andere als förderlich waren. Da sich dieser Beitrag auf die U.S.-Taliban Vereinbarung konzentriert, zu der die afghanische Regierung keine Partei ist, würde diese Thematik jedoch den Rahmen dieses Berichtes sprengen.)

Ausblick

Angesichts des oben genannten, ist der Ausblick alles andere als rosig. Als aussenstehender Beobachter verbleibt man mit dem Eindruck einer verwirrenden Situation, in der die Handlungen keiner Partei sinnvollen Friedensbemühungen zuträglich sind.

Die Vereinigten Staaten von Amerika für ihren Teil scheinen ihre Vorschläge für Frieden in Afghanistan mehr auf Hoffnungen als auf Fakten zu begründen — sei es im Falle der offenbaren Erwartung, dass intra-afghanische Verhandlungen die Lage in Afghanistan bis Ende April 2021 zumindest stabilisieren würden oder im jüngeren Beispiel des Vorschlages einer grossen Konferenz, die in einer afghanischen Übergangsregierung resultieren soll, obwohl sowohl die afghanische Regierung und die Taliban kaum Zweifel offen liessen, dass sie eine solche Lösung ablehnen.

Die Taliban auf der anderen Seite scheinen die U.S.-Taliban Vereinbarung als das zu sehen, als was sie sie in ihrer Propaganda regelmässig bezeichnen: eine Vereinbarung zur «Beendigung der Besatzung» Afghanistans, in der «die Amerikaner sich vor die Füssen der Mudschahedin [i.e. Taliban] geworfen und uns [die Taliban] um sicheres Geleit aus Afghanistan angefleht haben», was ihnen das Recht gibt, alles zu verlangen, was sie wollen, ohne signifikante Kompromisse eingehen zu müssen.[4]

Angesichts dieser Umstände ist es schwierig zu sehen, wie derzeitige Bemühungen für Frieden in Afghanistan gerettet werden können. Ein nüchterner Ansatz wäre die effektive Erneuerung der U.S.-Taliban Vereinbarung anstelle von neuen Vorschlägen, da Erstere eine in monatelangen, hart umkämpften Verhandlungen errungene, bindende Abmachung zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und den Taliban ist. Eine Erneuerung würde konkret bedeuten, dass beide Parteien — die Vereinigten Staaten von Amerika und die Taliban — die dargestellten fraglichen Interpretationen und Rhetorik betreffend Teilen der U.S.-Taliban Vereinbarung aufgeben und existierende Verpflichtungen, deren Status derzeit unklar ist, umsetzen. Eines der Hauptbeispiele wäre, dass die Taliban klar darlegen müssten, mit welchen konkreten Schritten sie ihre Anti-Terror-Verpflichtungen umgesetzt haben oder umsetzen, anstatt auf allgemeine Versicherungen zurückzufallen. Der Abzug aller amerikanischer und alliierter Truppen aus Afghanistan würde dann stattfinden, sobald die Taliban ihre Anti-Terror-Verpflichtungen erfüllt haben und nicht zwingend am ursprünglich vorgesehenen Datum; dies ist auch so in der U.S.-Taliban Vereinbarung stipuliert. Auf der anderen Seite müssten die Vereinigten Staaten von Amerika, falls sie dies nicht schon intern getan haben, eine administrative Überprüfung derzeitiger U.S. Sanktionen gegen Taliban in die Wege leiten und klar angeben, was die Taliban erfüllen müssen, um diese Sanktionen teilweise oder ganz aufgehoben zu sehen. Dies könnte auch als Druckmittel benutzt werden, da die Vereinigten Staaten von Amerika den Taliban klar machen sollten, dass es, abgesehen von einer effektiven Erneuerung der U.S.-Taliban Vereinbarung, keinen anderen Weg gibt, diese Sanktion aufzuheben. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass die Aufhebung der Sanktionen entgegen Behauptungen in Taliban-Propaganda (siehe zum Beispiel hier und hier) in der U.S.-Taliban Vereinbarung nicht definitiv versprochen, sondern nur als «Ziel» definiert worden war.

Sofern Erfahrung eine Messlatte sein sollte, bestehen jedoch Zweifel, dass eine solche Erneuerung erfolgreich umgesetzt werden könnte. Am 15. Oktober 2020 hatten amerikanische Vertreter bereits einmal eine solche Erneuerung [re-set] der U.S.-Taliban Vereinbarung angekündigt, die zumindest implizit von den Taliban bestätigt worden war. Diese hatte in der Folge aber keine nennenswerte Wirkung und schien schnell vergessen worden zu sein.

Angesichts des Ausgeführten ist das wahrscheinlichste Szenario leider, dass der Konflikt am Hindukusch mit der derzeit hohen Intensität weitergehen wird, ohne dass ein Ende absehbar wäre — und dies gilt unabhängig davon, ob derzeit prekäre Bemühungen für Frieden in Afghanistan fortgeführt werden könne, und unabhängig davon, ob amerikanische und alliierte Truppen in Afghanistan bleiben oder von dort abgezogen werden.

Franz J. Marty


[1] Transkript von Aussage von Zabihullah Mujahid, die auf einer mit den Taliban-assoziierten WhatsApp-Gruppe geteilt worden sind; Kopien der entsprechenden Nachrichten sind im Besitz des SIGA-Fellows in Afghanistan.

 

[2] Der Vollständigkeit halber ist anzumerken, dass ein auf den 13. Februar 2021 datierter Brief der Militärkommission der Taliban, der das Dienen von ausländischen Kämpfern in Taliban-Einheiten untersagt, die im Haupttext ausgeführte Situation nicht zu ändern vermag. Einerseits impliziert der Text des Briefes selber, dass es Ausnahmen zu dieser Regel gibt, und andererseits würde der Brief, selbst wenn die darin enthaltene Anordnung ausnahmslos und effektiv umgesetzt werden würde, nicht die offenbare interne Taliban-Position umstürzen, wonach es ausländischen Dschihadisten erlaubt ist, in Afghanistan zu bleiben und separat zu operieren, solange sie sich an gewisse Bedingungen halten (für Einzelheiten über solche Bedingungen sowie weitere Details, siehe den bereits zitierten früheren SIGA-Beitrag).

 

[3] Das klarste Beispiel ist eine Rede von Mullah Fazl, einem Mitglied des Taliban-Verhandlungsteams, welcher dieser im März 2020 an einem nicht bekannten Ort an andere Taliban-Mitglieder richtete. In dieser Rede erklärte Fazl, dass sich die Vereinigen Staaten den Taliban ergeben hätten und dass die Taliban betreffend ihrer Forderungen keine Kompromisse machen würden (nicht öffentlich zugänglich; ein übersetztes Transkript einer Audioaufnahme ist im Besitz des SIGA-Fellows in Afghanistan). Ein anderes Beispiel ist die Erklärung des Taliban-Anführers zur Unterzeichnung der U.S.-Taliban Vereinbarung.

 

[4] Rede von Mullah Fazl, einem Mitglied des Taliban-Verhandlungsteams, vor Taliban-Mitgliedern an einem nicht bekannten Ort im März 2020 (nicht öffentlich zugänglich; ein übersetztes Transkript einer Audioaufnahme ist im Besitz des SIGA-Fellows in Afghanistan).