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Amerika ist auf dem Abmarsch, die Taliban bleiben - Eine exklusive Innenschau von SIGA aus Afghanistan

Am 29. Februar 2020 unterzeichneten die Vereinigten Staaten von Amerika und die Taliban das «Agreement for Bringing Peace to Afghanistan». Ob diese Vereinbarung echten Frieden bringt oder nicht: die Amerikaner scheinen so oder so abziehen zu wollen und die Taliban in der einen oder anderen Form zumindest teilweise wieder an die Macht zu kommen. Dies wird Konsequenzen für die internationale Politik und die regionale Stabilität haben. Während dies eingehend von nicht-afghanischen Expertinnen und Experten diskutiert wird, kommen gewöhnliche Afghaninnen und Afghanen oft nur am Rande zu Wort. Um dies zu ändern, hat sich das Swiss Institute for Global Affairs (SIGA) in verschiedenen Teilen Afghanistans auf Spurensuche begeben.


Ein Afghane überblickt ein Tal in Marawara, Kunar, Afghanistan, 26. August 2020

Afghanische Stimmen zu einer möglichen Rückkehr der Taliban an die Macht …

«Wir akzeptieren jeden, der für Frieden ist; auch die Taliban. Die Taliban sind schliesslich auch von hier,» sagt Mirwais*, ein alter Mann mit weissem Bart in Marawara, einem an Pakistan angrenzenden Distrikt der ostafghanischen Provinz Kunar. Sein ebenfalls vollständig ergrauter Bekannter Abdullah* pflichtet ihm bei: «Selbst Hunger kann man ertragen, aber nicht das Fehlen von [physischer] Sicherheit.» Tiefere politische Überlegungen scheinen für die beiden keine grosse Rolle zu spielen. Auf Nachfrage gibt Mirwais an, dass er auch eine Rückkehr des Taliban Emirates anstelle der derzeitigen islamischen Republik akzeptieren würde, sofern dann Frieden käme. Diese Sicht wird auch von Haji Mahsal aus Nurgal, einem anderen Distrikt von Kunar, geteilt: «Wir hatten gute Erfahrungen mit beiden: der Taliban Regierung und der derzeitigen Regierung. Wir wollen nur Frieden.»

 

«Ausser einer Regierung, die sowohl die Taliban als auch derzeitige Regierungsvertreter einschliesst, gibt es keine andere Lösung,» sagt Hasib Khan*, ein anderer Mann aus Nurgal der bis zum Sturz des Taliban Regimes im Jahre 2001 selber ein Taliban-Kommandant war. «Die Taliban müssen die Verfassung akzeptieren und die [derzeitige] Regierung einige Änderungen in der Verfassung,» führt er weiter aus. Betreffend nötigen Änderungen erklärt Hasib Khan sodann, dass «alle [Afghanen] einig sind, dass das System islamischer werden müsse.» Dies deutet klar darauf hin, dass er immer noch zu den Ansichten der Taliban tendiert. In der Tat gab eine verlässliche Quelle, die Hasib Khan seit Jahrzehnten kennt, an, dass Hasib Khan über eine mehr oder weniger vollständige Rückkehr der Taliban glücklich wäre. Offen über solche Dinge zu reden, allen voran gegenüber einem westlichen Journalisten, ist jedoch — zumindest in von der afghanischen Regierung kontrollierten Teilen des Landes und trotz der Tatsache, dass die Taliban seit der Unterzeichnung der Vereinbarung mit den Amerikanern im Februar 2020 zu einem gewissen Grad salonfähig geworden sind — nach wie vor mehrheitlich verpönt. Azizgul*, ein in einem von Taliban kontrollierten Teil des Distrikts Tscharch in der südlich von Kabul gelegenen Provinz Logar lebender Mann, der per Telefon kontaktiert worden war, nimmt betreffend seiner Präferenzen hingegen kein Blatt vor den Mund: «Wenn die Taliban wieder an die Macht kommen, werden Ungerechtigkeit und Korruption beendet und es wird ein echtes islamisches System geben.»

Es gibt jedoch auch klar kritische Stimmen. «Im Falle einer Machtübernahme der Taliban, wird es wieder wie vorher keine Arbeit geben und die Taliban werden unter dem Namen ushr und sakat [islamische Steuern] Geld von den Leuten eintreiben,» befürchtet Naqibullah*, ein Mann aus einem von Taliban kontrollierten Dorf in Logars Distrikt Pul-e Alam, der ebenfalls per Telefon kontaktiert worden war. Naqibullah versicherte, dass nicht nur er, sondern viele Leute aus seinem Dorf so denken würden.

Wieder andere sind den Taliban offen feindselig. Zum Beispiel organisierten Bewohner von Andarob, einer Region in der nördlich der Hauptstadt Kabul gelegenen Provinz Baghlan, Mitte August eine Veranstaltung, um daran zu erinnern, dass Andarob vor 2001 ein Bollwerk des Widerstandes gegen die Taliban war, dies seither geblieben ist, und auch weiterhin bleiben wird. «Falls die Taliban in einer zukünftigen Regierung die Mehrheit der Macht erhalten sollen, wäre das für uns Andarobis inakzeptabel,» sagt Muhammad Abed Andarobi, ein einflussreicher Lokaler. Ahmad Zia Bako (im Bild rechts: Ahmad Zia Bako in einem Garten in Andarob, Baghlan, Afghanistan am 14. August 2020), ein anderer Andarobi bestätigt dies: «Falls die Taliban [als Resultat  des Friedensprozesses] mehrere Ministerien [in der Regierung] erhalten sollten, würden wir Widerstand leisten. Das wäre nicht nur kein Frieden, sondern würde bedeuten, Erpressung nachzugeben. Ganz allgemein werden wir nicht zulassen, dass sich die dunkle Zeit des Taliban-Regimes wiederholt.»

Dass Bakos Worte nicht nur leere Drohungen sind, zeigt sich an der Tatsache, dass er und ungefähr 200 bis 250 andere Männer aus Andarob im Herbst 2019 ihre persönlichen Waffen ergriffen und in den Provinzhauptort Pul-i Khumri marschierten, um Regierungstruppen bei der Abwehr eines Taliban-Angriffes auf die Stadt zu unterstützen. «In jedem Andarobi Haus hat es ein, zwei Waffen und die Männer sind bereit, diese zur Verteidigung des [derzeitigen] Systems sowie der Bevölkerung [gegen die Taliban] einzusetzen,» garantiert Bako. «Falls Frieden kommt, lege ich meine Waffe nieder; bis dahin behalte ich sie jedoch.»

 

Beide Männer erzählten auch stolz, dass die Taliban selbst am Höhepunkt ihrer Macht in den Jahren vor 2001 nur ein einziges Mal nach Andarob vorgedrungen waren und es nach der damaligen vernichtenden Niederlage nie wieder versucht hätten. Wie es der Zufall will, wurden die Taliban-Einheiten, die damals in Andarob geschlagen worden waren, laut Aussagen von Andarobis von Mullah Barodar kommandiert — dem Mann, der etwas über 20 Jahre nach dieser Schlacht im Namen der Taliban die genannte Vereinbarung mit den Amerikanern unterzeichnete.

 Dorf in Pul-i Hesar Distrikt, Andarob, Baghlan Provinz, wo Taliban in den späten 1990er Jahren eine Niederlage erlitten; 13. August 2020

Dass Andarob kein Einzelfall ist, und es auch in anderen Gebieten vehementen bewaffneten Widerstand gegen die Taliban gibt, zeigt sich aus der früheren Berichterstattung des Autors (siehe Beispiele aus Nuristan und Badakhshan) sowie aus der Tatsache, dass sich Ende August 2020 Schmuggler in Guruko, einem Gebiet nahe des afghanisch-pakistanischen Grenzüberganges Torkham in der östlichen Provinz Nangarhar, ebenfalls gegen die Taliban auflehnten. Letzteres war hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass die seit der Unterzeichnung der Vereinbarung mit den Amerikanern immer selbstsicherere auftretenden Taliban in Guruko geschmuggelte Waren aller Art besteuern wollten. Dies zeigt, dass solche Anti-Taliban-Aufstände nicht immer auf Ideologie, sondern teilweise auf handfesten konkreten Interessen beruhen.

… und zu einem wahrscheinlichen amerikanischen Truppenabzug

Die Sichtweise von Afghanen betreffend den wahrscheinlichen Abzug aller amerikanischer Truppen ist gewöhnlich ambivalent und teilweise widersprüchlich. «Die Amerikaner haben hier überhaupt nichts Gutes getan,» insistiert Hasib Khan in Nurgal. Die Frage, ob es nicht besser wäre, wenn amerikanische Truppen Afghanistan so oder so verlassen würden, verneint er dann jedoch. «Wenn die Amerikaner gehen, bevor die Bedingungen hier angemessen sind, dann ist das nicht gut und es wird wieder, wie als die Sowjets gingen,» prophezeit Hasib Khan mit Verweis auf den dem sowjetischen Truppenabzug folgenden verheerenden Bürgerkrieg in den frühen 1990er Jahren. 

Haji Rohullah (im Bild rechts in Jalalabad am 25. August 2020), ein ursprünglich aus Kunar stammender, aber nun in Jalalabad, der Hauptstadt der Provinz Nangarhar, wohnender Stammesältester sieht es ähnlich: «Wenn amerikanische und internationale Streitkräfte abziehen bevor intra-afghanische Verhandlungen zu einer Vereinbarung führen, wird das Probleme verursachen.» Rohullahs pragmatische Ansicht der Dinge ist dabei umso bemerkenswerter, als er allen Grunde hätte, die Amerikaner zum Teufel zu wünschen: von 2002 bis 2008 war Rohullah im auf Kuba gelegenen amerikanischen Gefangenenlager Guantanamo inhaftiert, wobei Originaldokumente aus Guantanamo darauf hindeuteten, dass die Amerikaner selber nicht genau wussten, weshalb Rohullah dort endete. (Die gegen Rohullah in den genannten Originaldokumenten erhobenen Anschuldigungen scheinen widersprüchlich und/oder unplausibel, was ein Mitglied des zur Beurteilung über die mögliche Freilassung von Gefangenen berufenen Administrative Review Boards dazu veranlasste, zu Protokoll zu geben: «I just cannot help but ask. Why are you [Rohullah] here?» [siehe Seite 16 des Administrative Review Board Round 1 Transkriptes von Rohullahs Prozess].)

Die obige Sichtweise ist unter Afghanen — generell und unter den für diesen Bericht kontaktierten Leuten — weit verbreitet; Ansichten wie die von Azizgul, dass alle Afghanen gegen die derzeit anwesenden ausländischen Truppen seien, scheinen dagegen in der Minderheit. 

 

Die vorherrschende Meinung vieler Afghanen, dass amerikanische Streitkräfte erst abziehen sollen, wenn sich die Lage in Afghanistan stabilisiert hat, ist jedoch nur schwer mit der Tatsache zu vereinbaren, dass zahlreiche Afghanen die Amerikaner gleichzeitig beschuldigen, den Krieg in Afghanistan absichtlich zu verlängern. «Wenn die Amerikaner und Pakistan wollen, kann es Frieden in Afghanistan geben; die haben nämlich alle Probleme verursacht,» sagt Mirwais in Marawara und fasste damit eine von zahlreichen seiner Landsmänner geteilte Meinung zusammen. Dass diese Argumentation verkürzt ist und ignoriert, dass sich seit der kommunistischen Saur Revolution im April 1978, der darauffolgenden sowjetischen Invasion, des Bürgerkrieges in den 1990er Jahren und seit der amerikanischen Invasion im Jahre 2001, hauptsächlich Afghanen aufgrund ihrer eigenen, divergierenden Vorstellungen gegenseitig bekämpfen, spielt für Mirwais und die Mehrheit der Afghanen offenbar keine Rolle.

 

Die genannte anti-amerikanische Ansicht ist dabei keinesfalls auf regierungskritische Afghanen beschränkt. Während die fanatisch gegen die Taliban gerichteten Andarobis, die U.S. Truppenpräsenz grundsätzlich gutheissen, gab auch Bako an, dass viele Andarobis, die Amerikaner eines doppelten Spiels verdächtigen. «Die Leute hier sind der Ansicht, dass die Taliban in Baghlan stärker geworden sind, weil die Amerikaner den Krieg näher zu Russland und China bringen wollen,» erklärt Bako in einer weiteren Variation des unter Afghanen weit verbreiteten Glaubens, dass die derzeitigen Kämpfe in Afghanistan Teil einer düsteren amerikanischen Verschwörung seien. Dass solche Vorstellungen nicht nur nicht belegt werden können, sondern oft in sich selber widersprüchlich sind, und eine nüchterne Betrachtung vielmehr zeigt, dass die Vereinigten Staaten von Amerika seit Jahren versuchen, ihre Involvierung in Afghanistan komplett zu beenden, übersehen Afghanen scheinbar beflissentlich.

 

Dies mag teilweise daran liegen, dass viele Afghanen die Verhältnisse nach wie vor durch die Linse der CIA-Unterstützung des afghanischen Widerstandes gegen die sowjetische Intervention in den 1980er Jahren sehen. Eine naheliegendere Erklärung ist jedoch wohl, dass es den meisten, wenn nicht allen Afghanen unerklärlich ist, dass die am technologisch weitest entwickelte Streitkraft der Welt es nicht schafft, Aufständische zu bezwingen, die sich hauptsächlich auf alte Kalaschnikows und rudimentäre hausgemachte Sprengsätze verlassen — ergo wollen die Amerikaner absichtlich nicht gewinnen. Dass ein in signifikanten Teilen der Bevölkerung verankerter, fanatischer bewaffneter Aufstand, dessen Kämpfer mehr oder weniger sofort in die zivile Bevölkerung schmelzen können, selbst mit allen Drohnen und laser-gelenkten Bomben der Welt kaum zu besiegen ist, lassen Afghanen dabei nicht als Argument gelten.

Alles in allem zeigen obige Aussagen, dass Hoffnungen auf Frieden in Afghanistan — selbst wenn ständig verschobene intra-afghanische Friedenshandlungen beginnen und Resultate liefern sollten, was alles andere als garantiert ist — trügerisch sind. Taliban und Anti-Taliban-Kräfte werden sich in voraussehbarer Zukunft in der derzeitigen oder einer anderen Form und mit oder ohne internationale Unterstützung weiter offen bekämpfen. Dies gesagt und da die meisten Afghanen die Vereinigten Staaten von Amerika eines doppelten Spiels bezichtigen, werden Afghanen die Amerikaner wohl so oder so — sprich im Falle eines vollständigen U.S. Truppenabzuges oder des Verbleibs einiger U.S. Truppen ob zu Recht oder Unrecht — für die kontinuierliche prekäre Lage in Afghanistan verantwortlich machen.

Franz J. Marty


Mit einem * versehene Namen wurden auf Wunsch der respektiven Personen geändert.