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Die obskuren Überbleibsel des selbsternannten Islamischen Staates in Afghanistan

GHAJULON BOLO, NEJRAB, KAPISA / KUNAR / KABUL

Oktober 2020

Aktualisiert am 10. November*


Der selbsternannte Islamische Staat sei in der ostafghanischen Provinz Nangarhar ‘vernichtend geschlagen’ worden, verkündete der afghanische Präsident Ashraf Ghani im November 2019. Später, im Frühling 2020, verlor die genannte Gruppe sodann auch ihre letzten verbleibenden Hochburgen in Afghanistan in der neben Nangarhar liegenden Provinz Kunar. Dies bedeutete jedoch nicht das Ende des selbsternannten Islamischen Staates in Afghanistan, da kleine Gruppen nach wie vor verdeckt in verschiedenen Teilen des Landes operieren und Anschläge für sich beanspruchen. Vom Swiss Institute for Global Affairs (SIGA) exklusiv vor Ort in Afghanistan zusammengetragene Informationen deuten jedoch darauf hin, dass zumindest einige dieser Gruppen offenbar mehr oder weniger autonom agieren und dass deren effektive Einbindung in die Organisation des selbsternannten Islamischen Staates oft zweifelhaft ist. Während dies bedeutet, dass solche Gruppen keine relevante transnationale Gefahr darstellen, zeigt es auch, wie schwierig es ist, die gefährliche Ideologie des selbsternannten Islamischen Staates auszumerzen. Ein SIGA-Investigativreport aus Afghanistan.


Eines der wenigen Photos einer Flagge des selbsternannten Islamischen Staates in Afghanistan, das nicht aus der Propaganda der Gruppe stammt. Diese Flagge mit einem lokalen, vom Standard abweichenden Design, wurde Berichten zufolge von afghanischen Regierungstruppen im Frühling 2019 im Distrikt Nurgal in der ostafghanischen Provinz Kunar beschlagnahmt.
(Quelle: https://twitter.com/RisboLensky/status/1131134871055863809)

Überraschende Berichte über den afghanischen Ableger des selbsternannten Islamischen Staates

“Die Daeshis sind gleich auf der andere Seite des kleinen Bergkammes,” versicherte Rahmat Khan gegenüber SIGA Anfang Oktober 2020 in seinem Haus in Ghajulon Bolo, einem Gebiet am Ende eines abgelegenen, jedoch von der afghanischen Hauptstadt Kabul nur ungefähr 3.5 Stunden Autofahrt entfernten Tales im Distrikt Nejrab in der Provinz Kapisa. Mit ‘Daeshis’ bezeichnete Rahmat Khan, der eine kleine Gruppen einer Pro-Regierungsmiliz in Ghajulon Bolo anführt, Mitglieder des selbsternannten Islamischen Staates, der in Afghanistan unter dem arabischen Akronym Daesh bekannt ist. “Habib Rahman ist der Anführer der Gruppe, die ungefähr 300 Männer zählt, und sagt offen, dass er ein Daeshi sei,” fügte Rahmat Khan sodann an, wobei er die Stärke der Gruppe, die von anderen Quellen auf 70 bis 80 Männer geschätzt wurde, wohl übertrieb. 

Später führte Rahmat Khan den SIGA-Fellow via einen steilen Abhang zu einem auf dem Bergkamm befindlichen Aussenposten. Von dort ist der Blick auf Habib Rahmans Dorf frei und die Männer der Pro-Regierungsmiliz zeigten das Haus von Habib Rahman, welches nur einige hundert Meter entfernt liegt. “Am Ende des vergangenen Winters hatte Habib Rahman dort, direkt auf seinem Dach, ein schwarzes [Daesh] Banner gehisst,” versicherte einer von ihnen. “Er hat die Flagge nur eingeholt, nachdem Regierungstruppen einen Raid gegen einige seiner Männer durchgeführt hatten, aber er ist immer noch ein Daeshi.”

Sicht auf das grösste Dorf in Ghajulon Bolo; Habib Rahmans Haus, auf dem er Berichten zufolge einst eine schwarze Fahne hisste, ist das erste Haus in der Mitte des Bildes. (Franz J. Marty, 6. Oktober 2020)

Diese Behauptungen sind aus mehreren Gründen überraschend. Einerseits blieben offen agierende Gruppen des afghanischen Ablegers von Daesh, der Ende 2014/Anfang 2015 in der ostafghanischen Provinz Nangarhar auftauchte, immer auf Nangarhar sowie die angrenzende Provinz Kunar beschränkt; die einzige potentielle Ausnahme war eine zwischen 2015 und Sommer 2018 existierende Exklave von angeblichen Daeshis in der nordafghanischen Provinz Jowzjan, deren tatsächliche Zugehörigkeit zum selbsternannten Islamischen Staat jedoch seit jeher zweifelhaft war.* Andererseits blieben Berichte über angebliche Daesh-Gruppen in anderen Provinzen — abgesehen von kleinen, verdeckt operierenden Zellen in und um Kabul sowie, wenn auch zu einem unsichereren Grade, in der westafghanischen Stadt Herat  — entweder nicht mehr als fragwürdige Gerüchte oder konnten widerlegt werden.[1] Über Daesh in Kapisa gab es, soweit dies bestimmt werden konnte, gar zu keinem Zeitpunkt Berichte.[2] Einer der Hauptgründe, dass sich Daesh, ausser in einigen Gebieten in Nangarhar und Kunar, nicht etablieren konnte, war, dass die Taliban, die die dschihadistische Szene in Afghanistan praktisch vollständig beherrschen, Daesh aufgrund ideologischer sowie anderer Differenzen offen bekämpfen.

 

Andererseits wäre der Zeitpunkt des berichteten Hissens einer schwarzen Daesh-Fahne Anfang 2020 ebenfalls ausserordentlich, da der afghanische Ableger des selbsternannten Islamischen Staates, der auch als Khorasan Provinz bekannt ist, in und um diese Zeit schwere Rückschläge einstecken musste. Namentlich verlor die Gruppe, nachdem U.S. und afghanische Regierungstruppen sowie die Taliban zwischen Spätsommer 2019 und Frühling 2020 separate Offensiven gegen Daesh Khorasan lancierten und intensivierten, alle ihre ehemaligen offenen Hochburgen in Nangarhar und Kunar.

Selbst-Bekennung zu Daesh…

Angesichts dieser Ausführungen stellt sich die Frage, ob Berichte über Daesh in Kapisa, wie frühere Berichte über Daesh in anderen Provinzen als Nangarhar und Kunar, falsch sind oder ob Daesh tatsächlich eine kleine Präsenz in einem nur wenige Autofahrstunden von Kabul  entfernten Gebiet hat.

Dass Habib Rahman und seine Gefolgsleute sich in der Tat als Daeshis bezeichnen, wurde dem SIGA-Fellow anlässlich seines Besuches in Ghajulon Bolo von mehreren Einheimischen bestätigt, unter anderem einem Taxifahrer, der nicht unmittelbar aus Ghajulon Bolo stammt und nichts mit der Pro-Regierungsmiliz zu tun hat und daher kaum befangen war. “Als ich im Frühling [2020] einen Fahrgast nach Ghajulon Bolo brachte, habe ich Habib Rahman persönlich getroffen. Er hat mich eingeladen, sich seinem Dschihad anzuschliessen und vom Kalifat [eine gängige Eigenbezeichnung von Daesh in Afghanistan] gesprochen. Ich habe auch einige schwarze Fahnen auf Häusern im Dorf gesehen,” führte der Taxifahrer aus. Ein anderer Taxifahrer aus Ghajulon Bolo, der oft ins Dorf von Habib Rahman fährt, bestritt dann zwar, im Dorf von Habib Rahman je schwarze Daesh-Flaggen oder Insignien gesehen zu haben, bestätigte aber, dass einige Leute im besagten Dorf, sich offen zum selbsternannten Islamischen Staat bekennen würden.

Den klarsten Beweis für die Bekennung von Habib Rahman und seinen Gefolgsleuten zu Daesh erhielt SIGA jedoch in Form des unten links abgebildeten Photos. Gemäss Nur Habib, einem der 20 Mitglieder der Pro-Regierungsmiliz in Ghajulon Bolo, wurde das besagte Photo im Herbst 2019 aufgenommen und zeige Habib Rahmans Neffen, wobei einer ein schwarzes Stirnband mit dem Daesh-Logo trägt. Das Photo ist soweit ersichtlich nicht online geteilt worden und Nur Habib versicherte, es via Bluetooth direkt vom Smartphone eines Bewohners aus Habib Rahmans Dorf erhalten zu haben.

Bild von Habib Rahmans Neffen, wovon einer ein Daesh Stirnband trägt, angeblich im Herbst 2019 an einem unbestimmten Ort, aber wohl in Ghajulon Bolo aufgenommen. (Erhalten von Nur Habib, einem Mitglied der Pro-Regierungsmiliz in Ghajulon Bolo)

Bild von Habib Rahman, Ort und Zeit der Aufnahme unklar. (Erhalten von Nur Habib, einem Mitglied der Pro-Regierungsmiliz in Ghajulon Bolo)


…aber Verbindungen zu anderen Daesh-Gruppen fraglich

Die genannten Aussagen und das Photo belegen aber nur, dass sich Habib Rahman und seine Männer offenbar selber zu Daesh bekennen, beantworten jedoch nicht die Frage, ob die Gruppe mit anderen Daesh-Gruppen in Verbindung steht und in eine grössere Organisation eingegliedert ist. Während diese Frage nicht definitiv beantwortet werden kann, bestehen diesbezüglich erhebliche Zweifel.

Einer der Gründe dafür ist, dass keiner der Einheimischen in Ghajulon Bolo verlässlich angeben konnte, wie genau Habib Rahman zum Daeshi geworden ist und ob und wie er zu anderen Daesh-Gruppen in Verbindung steht. Die Männer der lokalen Pro-Regierungsmiliz verwiesen nur vage einerseits auf Habib Rahmans religiöse Studien in Pakistan, wo er radikalisiert worden sei, und andererseits auf Besuche von auswärtigen Daeshis, die Habib Rahman zunächst schwarze Halstücher/Stirnbänder gebracht hätten und denen Habib Rahman Treue geschworen hätte. Da Habib Rahmans Studien in Pakistan offenbar einige Jahre zurückliegen und gut möglich vor dem Auftauchen des selbsternannten Islamischen Staates in Afghanistan stattfanden, erscheint es wahrscheinlich, dass die Männer der Pro-Regierungsmiliz Habib Rahmans Bekennung zu Daesh mit seiner Konversion zum Salafismus, einem puritanischen Religionsverständnis, auf dem auch Daesh seine Ideologie basiert, vermengen. Dies wurde scheinbar durch die Tatsache bestätigt, dass die Männer der Miliz den salafistischen Gebetsstil, den Habib Rahman und seine Gefolgsleute übernommen hatten und den sie offenbar noch nie gesehen hatten, direkt mit Daesh assoziierten, obwohl bei weitem nicht jeder Salafi ein Daeshi ist. Die Berichte über den Besuch von auswärtigen Daeshis sind sodann mehr als fragwürdig, da keiner der Männer verlässliche Details über solche Vorkommnisse nennen konnte. “Die Delegationen [von auswärtigen Daeshis] kamen im Geheimen und gingen im Geheimen,” erklärte Mohammad Bakhsh, ein weiteres Mitglied der Pro-Regierungsmiliz stellvertretend für die anderen, implizierte damit jedoch, dass dies bestenfalls unzuverlässiges Hörensagen ist.

Aufgrund des Gesagten ist es daher fraglich, dass die Gruppe von Habib Rahman Verbindungen zu anderen Daesh-Gruppen hat oder in eine grössere Daesh-Organisation eingegliedert ist, und es erscheint viel wahrscheinlicher, dass sich Habib Rahman und seine Männer lediglich aus persönlicher religiöser Überzeugung mit Daesh identifizieren. Dies gilt umso mehr, als Habib Rahmans Gruppe offenbar gut mit den lokalen Taliban in Ghajulon Bolo auskommt, obwohl die Taliban und Daesh Khorasan grundsätzlich erbitterte Feinde sind.

Andere Angebliche Daesh-Gruppen mit fragwürdigem Hintergrund

Habib Rahmans Gruppe wäre auch nicht die erste angebliche Daesh-Gruppe in Afghanistan, deren effektive Verbindung zum selbsternannten Islamischen Staat fragwürdig ist. Ein anderes Beispiel war die bereits erwähnte angebliche Daesh-Exklave in Jowzjan, die im Sommer 2018 von den Taliban überrannt worden war. Ähnlich der Gruppe in Ghajulon Bolo, hatten sich die fraglichen Kämpfer in Jowzjan offenbar zwar selber als Daeshis bezeichnet und Daesh-Insignien verwendet, jedoch wohl keine signifikanten Verbindungen zu anderen Daesh-Gruppen gehabt (cf. für Einzelheiten siehe diesen Bericht des Afghanistan Analysts Network und dessen Nachweise).*

Des Weiteren und obwohl Kunar seit den frühen Tagen des selbsternannten Islamischen Staates in Afghanistan eine Hochburg der Gruppe war, waren und sind die Verbindungen von zumindest einigen Daesh-Gruppen in Kunar zur breiteren Organisation des selbsternannten Islamischen Staates unklarer als oft dargestellt. In der Tat gibt es Indizien, dass zumindest einige angebliche Daeshis in Kunar lediglich eine vage, lokal gefärbte Version der Ideologie des Islamischen Staates übernommen haben.

Solche Indizien bestehen beispielsweise für die Daeshis in Korengal, einem Tal in Kunars Manogai Distrikt, in dem U.S. Streitkräfte vor Jahren einige der schwersten Verluste der U.S. Militärintervention in Afghanistan erlitten hatten. Aufgrund der Abgeschiedenheit des Tales sowie anderen Aspekten sind Korengalis, die sich ethnisch von anderen Kunaris unterscheiden und eine eigene Sprache sprechen, eigen und haben sich seit jeher gegen auswärtige Einflüsse in ihre Angelegenheiten widersetzt. Gemäss von SIGA gesammelten Informationen der letzten Jahren gibt es zudem Hinweise, dass Aufständische aus Korengal, die irgendwann vor Februar 2019, von den Taliban zu Daesh übergelaufen seien und sich später gezwungen sahen, sich den Taliban zu ergeben, seit jeher mehr oder weniger autonom operieren. Aus praktischen Gründen scheinen Korgenali-Kämpfer jedoch die Flagge derjenigen grösseren Gruppe zu verwenden, die in einem bestimmten Zeitpunkt am gangbarsten ist, und sich dieser Gruppe nominell unterzuordnen, ohne sich jedoch effektiv in diese zu integrieren. In den Jahren vor dem Auftauchen von Daesh Khorasan, waren die Taliban die einzige gangbare Option, aber dann kam mit Daesh Khorasan eine Alternative, die, da Korengalis seit Langem Salafisten sind, den zusätzlichen Anreiz ideologischer Nähe mit sich brachte. Da mehrere Versuche des SIGA-Fellows, Zugang zum Korengal-Tal oder verlässlicher Informationen aus demselben zu erhalten, scheiterten, konnte Obiges nicht definitiv bestätigt werden und bleibt, bis zu einem gewissen Grade, spekulativ.

Eingang zum Korengal-Tal. (Franz J. Marty, 23. April 2019)

Wie dem auch sei, versicherte ein Mitarbeiter des Nationalen Direktorates für Sicherheit, der afghanischen Geheimpolizei, in Kunar, dass mehr oder weniger alle Korengalis, die sich Daesh angeschlossen und sich später den Taliban ergeben hatten, irgendwann im Sommer 2020 wieder zu Daesh übergelaufen seien. Er fügte sodann hinzu, dass die betroffenen Korengalis dies im Geheimen gemacht hätten und offiziell immer noch die weisse Flagge der Taliban und nicht das schwarze Banner des selbsternannten Kalifats verwenden würden; die Quelle gab nicht an, auf was für Informationen diese Schlussfolgerung beruht, und diese konnte nicht unabhängig überprüft werden. In jedem Fall zeigt auch dieses Beispiel, wie schwer fassbar die Situation um angebliche Daesh-Gruppen in Afghanistan oft ist.

Selbst wenn Gruppen wie die genannten im Korengal oder in Ghajulon Bolo echte Daeshis sein sollten, liegen Indizien vor, dass solche Gruppen, wenig, wenn überhaupt mit anderen Daesh-Gruppen innerhalb oder ausserhalb Afghanistans interagiert hatten. Dies ergibt sich aus Interviews, die SIGA mit mehreren, mehrheitlich aus Kunar stammenden, ehemaligen Daesh-Fusssoldaten im Verlaufe des Sommers 2020 durchgeführt hatte. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass das Fehlen von Verbindungen zwischen lokalen Daesh-Gruppen allenfalls absichtlich geschehen war, um zu verhindern, dass die Verhaftung von Mitglieder einer Gruppe, Mitglieder von anderen Gruppen kompromittieren könnte.[3] Solch strikte Sicherheitsvorkehrungen hätten dann jedoch auch zu bestenfalls äusserst beschränkter Koordination zwischen einzelnen Gruppen geführt.

Trotzdem einige Verbindungen zwischen der Daesh-Hauptgruppe und Daesh Khorasan

Ungeachtet des Gesagten gibt es jedoch Hinweise dafür, dass zumindest einige Daesh-Zellen in Afghanistan zumindest gewisse Kontakte und Koordinierung mit der Hauptgruppe des selbsternannten Kalifats im Nahen Osten hatten. Dies zeigt sich am klarsten in der Tatsache, dass Daesh Khorasan, selbst Monate nach dem Verlust praktisch aller von der Gruppe kontrollierten Gebiete in Afghanistan, immer noch die Verantwortung für in Afghanistan durchgeführte Anschläge übernimmt. Dies geschieht via etablierte zentrale Daesh-Propagandakanäle auf Messaging Apps wie Hoop Messenger oder Telegram, die alle Provinzen des selbsternannten Kalifats von West-Afrika bis in die Philippinen abdecken.

Zwischen dem 1. August und 28. Oktober 2020 haben solche Daesh-Propagandakanäle mindestens 26 Anschläge in Afghanistan für die Gruppe beansprucht. Sechzehn dieser Anschläge fanden in Nangarhar, fast ausschliesslich in und um den Hauptort Jalalabad, statt;  vier in der Hauptstadt Kabul; vier gegen oder nahe Bagram Airfield, der grössten, wenig nördlich von Kabul gelegenen U.S. Militärbasis; und zwei in Herat. Abgesehen von einem koordinierten Raid gegen das Provinzgefängnis von Nangarhar in Jalalabad, welcher am Abend des 2. August 2020 begann und beinahe 24 Stunden andauerte, sowie eines Suizidanschlags gegen ein Bildungsinstitut in Kabul am 24. Oktober 2020, war keiner der Anschläge signifikant und die meisten bestanden in der Explosion von kleinen Sprengsätzen, nicht erfolgreichen Raketen-Angriffen, oder der Erschiessung von Regierungsvertretern.

Daesh Bekennerschreiben für einen Suizidanschlag auf ein Bildungsinstitut in einem mehrheitlich schiitischen Teil von Kabul Stadt vom 24. Oktober 2020.

Letzteres weist darauf hin, dass die Kapazitäten für Anschläge der immer noch aktiven Daesh-Zellen limitiert sind und dass grössere Operationen wie diejenige gegen das Gefängnis in Jalalabad wohl seltene Ausnahmen bleiben werden. Wie der Suizidanschlag auf das Bildungsinstitut in Kabul zeigte, können Anschläge gegen wenig gesicherte zivile Ziele, die verhältnismässig einfach zu organisieren sind, dennoch zu verheerenden Opferzahlen führen.

Während die Konzentration von Bekennerschreiben für Anschläge in oder um Städte durch die Tatsache erklärt werden könnte, dass es in Städten nicht nur mehr, sondern auch attraktivere Ziele gibt, ist es auch möglich, dass dies auf Unterschieden zwischen Daesh-Zellen, die verdeckt in und um Städte operieren, und angeblichen Daesh-Gruppen, die offener in entlegenen ländlichen Gebieten aktiv sind, beruhen könnte. Namentlich scheinen Erstere in der Lage und willig zu sein, ihre Aktivitäten direkt in die zentrale Propaganda von Daesh einzuspeisen, während Letzteren wohl, wie oben ausgeführt, die dazu nötigen Verbindungen fehlen. Angesichts der Tatsache, dass es über in und um Städte operierende Daesh-Zellen so gut wie keine gesicherten Informationen gibt, kann dies jedoch nicht definitiv gesagt werden. Es wäre jedoch gut mit den Resultaten der buchstäblich einzigen Studie zu Daesh-Zellen in und um Kabul vereinbar, gemäss der Mitglieder solcher Zellen oft aus dem Mittelstand stammen und eine relative gute Ausbildung genossen haben — was bedeutet, dass sie in einer besseren Position sind, sich online mit anderen Daesh-Mitgliedern zu verlinken. In diesem Zusammenhang ist es ebenfalls wichtig zu bemerken, dass die genannte Studie angibt, dass Daeshis, die Anschläge in Kabul ausführten oder planten, zumindest in der Vergangenheit in Kontakt mit der Kernführung von Daesh Khorasan in Nangarhar standen und von dieser Befehle erhalten hatten — was darauf hinweist, dass dieser Kern in Nangarhar ebenfalls gewisse Verbindungen zu Daesh ausserhalb Afghanistans hatte und sich von anderen angeblichen Daeshis in anderen Teilen Afghanistans unterscheidet. Da sich die erwähnte Studie auf die Gründe, weshalb Leute sich Daesh anschliessen, konzentrierte, und die Organisation von Daesh Khorasan nicht im Detail analysierte, kann dies jedoch nicht mit Sicherheit gesagt werden. Die Tatsache, dass Daesh Khorasan in der Zwischenzeit alle offenen Hochburgen in Nangarhar verloren hat und die Führung von Daesh Khorasan nun gar noch obskurer ist als zuvor, hat die Fähigkeit der Führung von Daesh Khorasan, Operationen zu koordinieren, jedoch wohl weiter vermindert.

Wie dem auch sei, ist es angesichts all des oben Erwähnten, insbesondere der oft lokalen Natur von Daesh-Gruppen in Afghanistan, unwahrscheinlich, dass solche Gruppen — sei es urbane oder ländliche — eine Gefahr ausserhalb ihrer unmittelbaren Operationsgebiete, geschweige denn für andere Länder, darstellen. Dies bedeutet jedoch auch, dass solche Gruppen nur schwer ausgemerzt werden können, da sie offenbar von ihren eigenen ideologischen Überzeugungen getrieben sind und vom Verlust von anderen Daesh-Gruppen und -Anführern nicht betroffen werden. Dementsprechend ist es auch wahrscheinlich, dass solche Daesh-Gruppen weiterhin blutige Anschläge in Afghanistan verüben werden.

Franz J. Marty


[1] Für ein Beispiel aus der nördlichen Provinz Badakhshan siehe “The phantom menace of ISIS in Northern Afghanistan”; und für ein Beispiel aus der westlichen Provinz Ghor “Carnage in Ghor: Was Islamic State the perpetrator or was it falsely accused?”.

[2] Der Vollständigkeit halber ist anzumerken, dass eine detaillierte, im Juni 2020 publizierte Studie nachweist, dass zahlreiche in und um Kabul Stadt aktive Daeshis offenbar aus Kapisa stammen; die Studie enthält jedoch keine Indizien, dass in Kapisa selber eine offene Daesh-Präsenz besteht.

[3] Eine detaillierte Studie der in und im Kabul operierenden Daesh-Zellen weist darauf hin, dass zumindest solche Zellen, die offenbar auch in Kontakt mit Daesh Gruppen in Nangarhar standen, aus Sicherheitsgründen strikt voneinander isoliert waren. Wie weiter unten im Haupttext erklärt bestehen jedoch Hinweise, dass solche urbanen Zellen und der Kern der Daesh Khorasan Führung in Nangarhar sich von anderen angeblichen Daesh-Gruppen wie denjenigen in Kunar oder Kapisa unterscheiden.

* Korrigendum: Kurz nach der ursprünglichen Publikation dieses Beitrages informierte eine gut platzierte Quelle SIGA, dass nicht öffentlich Dokumente des selbsternannten Islamischen Staates zeigen würden, dass es eine signifikante Verbindung zwischen der erwähnten Daesh-Exklave in Jowzjan und dem Kern des selbsternannten Islamischen Staates im Nahen Osten gegeben hätte.