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Letters from the Balkans

Der Westbalkan ist ein geopolitischer Brennpunkt Europas. Er bildet die Verbindungsachse zwischen Westeuropa und dem Nahen Osten und ist strategisch relevant, was sich in einer Renaissance der Machtpolitik, in Chinas Machtstreben und der Erweiterungspolitik der EU manifestiert. Aber auch kulturell hat der Westbalkan einiges zu bieten und ist zudem aufs engste mit der Schweiz verbunden. In einer Zusammenarbeit zwischen SIGA und Balkan+ analysieren Expert*Innen Ereignisse und Entwicklungen der Region und berichten exklusiv vor Ort in der neuen Rubrik «Letters from the Balkans».


Der Westbalkan ist ein geopolitischer Brennpunkt Europas – eine «global affair». Deshalb beginnt SIGA in den nächsten Wochen mit der Publikation von Letters from the Balkans. Hierfür analysiert ein Netzwerk von Autorinnen und Autoren in Belgrad, Pristina, Sarajevo und Skopje geo- & sicherheitspolitische Entwicklungen und Ereignisse in der Region. Dabei schildert das Expert*innen-Team auch Zwischentöne, welche zum Verständnis der Vorgänge ebenso wichtig sind und nur direkt vor Ort zu entnehmen sind.

Unser Ziel ist es, eine unabhängige Informationsplattform zwischen der Schweiz und dem Westbalkan zu bilden. Wir schärfen den Blick für die politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge dieser Schlüsselregion und wenden uns gegen «fake news» und einseitige Narrative im globalen und lokalen Informationskrieg.

 

Europäischer Brennpunkt

Der Westbalkan bildet die Verbindungsachse zwischen Westeuropa und dem Nahen Osten, was verschiedene Beispiele aus der Geschichte bis in die Gegenwart verdeutlichen: So führt eine wesentliche Route der globalen Armutsmigration über den Westbalkan. Bereits der Orientexpress Paris-Simplon-Venedig-Istanbul verkehrte via Belgrad. An der Mündung der Sava in die Donau treffen das habsburgisch geprägte Europa auf den osmanisch bzw. byzantinischen Raum. Die Nachwehen der Zeitenwende nach dem Ersten Weltkrieg, als die Grossreiche Österreich-Ungarns und der Türkei zusammenbrachen, dienen bis heute als Grundlage für Konflikte. Entsprechend sind die strategischen Herausforderungen der Gegenwart auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens und Albaniens deutlich spürbar:

  1. Die Renaissance der Machtpolitik
    Die USA, die Türkei und Russland versuchen, über Teile der Elite, wirtschaftlich und religiös ihre konkurrenzierenden Interessen durchzusetzen. Unterdessen ist die Mehrheit der Länder Mitglied der Nato – inklusive Montenegro, das Russland als einen seiner Zugänge zum Mittelmeer versteht. Bereits heute werden die Konflikte in hybrider Form ausgetragen. Die Grenzen zwischen lokalen Machtstrukturen, organisierter Kriminalität und Aktionen ausländischer Staaten verlaufen dabei fliessend.

  2. Das Machtstreben Chinas
    Der Westbalkan ist im Fokus der chinesischen «Belt and Road Initiative». Der Einfluss Chinas ist besonderes in Serbien spürbar: Das autokratische Regime in Belgrad verwendet Huawei-Überwachungstechnologie, erhielt chinesische Kampfdrohnen für seine Armee und lehnte sich während der Pandemie noch stärker an China. Doch ist diese Partnerschaft nicht exklusiv, so ist Serbien auch mit Russland verbunden und pflegt ebenfalls gute Beziehungen zum Westen. Zudem ist Serbien ein beträchtlicher Waffenlieferant verschiedener Konfliktparteien im Nahen Osten.

  3. Die erlahmte Erweiterungspolitik der EU
    Die Perspektive einer Vollmitgliedschaft in der EU scheint für die Länder des Westbalkans fast unerreichbar, trotz der Thessaloniki-Agenda der EU, welche diese Erweiterung verspricht. Die Zugkraft der EU sinkt zusehends. Um die Länder des Westbalkans aus der derzeitigen Situation zu befreien, wobei demokratische Strukturen und Handlungsweisen nur unzureichend entwickelt sind, reichen die halbherzigen Ermunterungen zu Reformen von Seiten der EU nicht aus. Folglich bleiben Korruption und Klientelwesen die dominanten Hemmnisse auf dem Weg zur Entwicklung von Rechtsstaat und einem wirklich repräsentativen politischen System. In Serbien, als zentrales Land des Westbalkans, fehlt de facto der politische Wille, Beitrittsverhandlungen mit der EU voranzutreiben – denn mit der Erfüllung der EU-Standards in Bereichen der Rechtstaatlichkeit oder Medienfreiheit würde das autokratische Regime den Ast absägen, auf dem es sitzt.

Die Schweiz und der Westbalkan

Und doch gilt hervorzuheben, dass der Westbalken wesentlich mehr als Konflikt und Kriminalität bietet. Er ist ein Mikrokosmos von Menschen unterschiedlichster Traditionen, verfügt über einen ausgeprägten intellektuellen Diskurs und ein reiches Kulturleben – sowohl im etablierten Bereich als auch in der freien Szene. Die bilateralen Beziehungen einzelner Staaten sind, allerdings, immer noch schwer belastet von der unaufgearbeiteten Kriegsgeschichte der 1990er Jahre, was den Boden fruchtbar macht für nationalistisch-populistische Politik.

Die Schweiz ist zudem mit dem Westbalkan aufs engste verbunden. Albanisch und die verschiedenen Varianten der südslawischen Sprache gehören heute der vielsprachigen, schweizerischen Realität an. Was auf dem Westbalkan passiert, betrifft und berührt entsprechend auch die Schweiz.

 

Das Balkan+ Team

Gründe genug, um diese Region auf dem Radar zu haben und genauer hinzuschauen. SIGA arbeitet für die Briefe aus dem Balkan mit einem Kollektiv unabhängiger Expert*innen der Gruppe «Balkan+» zusammen, welche auch politische Beratungsmandate oder Risikoanalysen für Firmen sowie staatliche Institutionen übernimmt. Im Westbalkan vor Ort für die unabhängige Informationsplattform zwischen der Schweiz und dem Westbalkan, für SIGA und Balkan+ sind:

 

Mario Barfus, Belgrad und Hvar

ist in Petrinja (Jugoslawien) und Appenzell aufgewachsen. Seit 1992 ist er im Einsatz für diverse Institutionen wie das IKRK, EDA, UN-ICTY, EU, OSZE und UEFA gestanden und ist auch Mitglied des EDA-Expertenpools. Er fungiert bei Balkan+ als Ansprechpartner für Aussenkontakte.

 

+381 63 1952710

+41 76 506 90 50

mbarfus@hotmail.com

Aulona Memeti, Prishtina

ist Exekutivdirektorin von ADMOVERE, einer Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Prishtina, die sich auf Hochschulbildung und Übergangsjustiz konzentriert. Sie hat hauptsächlich über das Hochschulsystem im Kosovo geforscht und ist Autorin und Mitautorin mehrerer Berichte und Veröffentlichungen. Aulona ist Teil der Westbalkan-Initiative, einer Initiative des Internationalen Instituts für Frieden in Wien, mit dem Ziel, Alternativen zum Status quo zu untersuchen und zu fördern und die Zusammenarbeit der Balkanländer mit dem internationalen System zu verstärken. 

Andrej Ivanji, Belgrad

ist in Belgrad geboren und als Jugoslawe aufgewachsen. Er berichtet seit drei Jahrzehnten als Journalist für verschiedenen deutschsprachige Medien über die postjugoslawische Region. Als Gastprofessor hielt er an der Universität in Jena Blockseminare zum Thema „Medien und der Krieg“ am Beispiel des Zerfalls Jugoslawiens. Er ist Redakteur im serbischen Nachrichtenmagazin Vreme. Sein Fokus liegt auf dem Westbalkan, wo ethnische und politische Konflikte nicht überwunden, sondern eingefroren worden sind. Soziale Misere und unbeglichene historische Rechnungen sind dabei eine hochexplosive Mischung.

Harald Schenker, Skopje

ist in Klausenburg/Cluj (Rumänien) geboren und nun Historiker und Balkanologe mit praktischer Erfahrung und akademischem Interesse. Vorweisen kann er eine umfangreiche Erfahrung in internationalen Organisationen und vertiefte Kenntnisse in und über Südosteuropa und die Feinheiten der politischen Landschaft. So hat er auch Erfahrung mit allen Regierungsebenen sowie der Zivilgesellschaft. Er ist tätig in der Analyse und Beratung von Einzelpersonen wie auch Organisationen oder Unternehmen zu Fragen im Zusammenhang mit Südosteuropa mit besonderem Schwerpunkt auf demokratischer Gouvernanz, Minderheitsfragen und interethnischen Beziehungen. Zudem beteiligt er sich an einer Reihe von Kultur- und Medienprojekten - Veröffentlichungen, Produktion von Dokumentarfilmen usw.

Das nachfolgende Beispiel bringt seine Leidenschaft mustergültig zum Ausdruck:

„Die Komplexität einer Situation, eines Systems oder eines Prozesses in verdaubare Teile zu zerlegen, aus diesen Teilen etwas zu erschaffen, das wahrheitlich sowohl mir als auch den Protagonisten gehört, darin liegt die Schönheit des Erzählens. Letztlich ist Demokratie das Weitererzählen und das Debattieren von Geschichten und Narrativen.“