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Die Volkszählung in Nordmazedonien - (un)überbrückbare Konfliktlinien

In Nordmazedonien steht die erste Volkszählung seit 19(!) Jahren an. Da es keine offiziellen Zahlen zum Stand der Einwohner gibt, ist es nicht möglich, die Infrastruktur entsprechend zu planen und platzt Skopje im Zuge der Landflucht buchstäblich aus allen Nähten. Die Volkszählung ist auch aus ethnischen Gründen allerdings stark umstritten und handelt es sich um einen hochpolitischen Prozess, der riskiert, aus internen und externen Gründen die Stabilität Nordmazedonien negativ zu beeinflussen.


Es klingt geradezu unglaublich, dass es im heutigen Europa einen Staat gibt, dessen neueste offizielle Bevölkerungsstatistik 19 Jahre alt ist. Die letzte Volkszählung fand in Nordmazedonien im Jahr 2002 statt. Laut deren Ergebnisse leben in dem Land knapp über zwei Millionen Menschen. Seitdem wird mit Projektionen gearbeitet, deren Wert sich leicht im Alltag erkennen lässt. 

So hat die Hauptstadt Skopje eine offizielle Bevölkerung von knapp 507,000 Einwohnern. Derzeitige Schätzungen gehen davon aus, dass heute knapp die doppelte Anzahl wahrscheinlicher ist, und dass etwa eine Million Menschen sich tagsüber in der Stadt aufhalten. Es ist aber nicht möglich, Infrastruktur entsprechend zu planen, weil es keine offiziellen Zahlen gibt. Folglich platzt Skopje buchstäblich aus allen Nähten und die Lebensqualität leidet erheblich darunter.

Ein anderer Aspekt, der Nordmazedonien in wahrscheinlich ähnlichem Masse wie die anderen Länder der Region betrifft, ist die massive Abwanderung. Schätzungen der Weltbank gehen davon aus, dass im letzten Jahrzehnt mehr als eine halbe Million Menschen dem Land den Rücken gekehrt haben, die meisten wohl für immer. Selbst der Direktor des nationalen Amtes für Statistik geht davon aus, dass zurzeit nicht mehr als 1,5 Millionen Menschen im Lande leben[1].

Landflucht und massiver Zuzug in die Hauptstadt Skopje sowie gleichzeitig hohe Auswanderungsraten, diese Realität gilt es genau zu erfassen, um überhaupt damit umgehen zu können. Denn weder die gesellschaftlichen, noch die wirtschaftlichen und Folgen sind wirklich aufgearbeitet. Von einer Gegenstrategie kann trotz vielfacher Ankündigungen überhaupt noch nicht geredet werden. Eine Folge wird immer deutlicher spürbar: es herrscht massiver Arbeitskräftemangel.

Nun hat sich die Regierung des Sozialdemokraten Zaev endlich dazu durchgerungen, die lange überfällige Volkszählung durchzuführen. Es ist ein zweites Pandemie-Jahr und die Voraussetzungen sind nicht gerade ideal. Noch ist die statistische Übung nicht über die Bühne gegangen, und es gibt immer noch erhebliche Widerstände.

Im Folgenden sollen diese Widerstände und ihre Implikationen im Mittelpunkt stehen. Zunächst aber ein kurzer Abriss der Merkmale mazedonischer Volkszählungen, die sie zu besonderen Ereignissen machen, insbesondere unter sicherheitspolitischen Erwägungen.

Wettlauf der Nationalismen - Destabilisierung mit Ansage

Von Anbeginn der kurzen Geschichte des unabhängigen mazedonischen Staates, also seit 1991, ist seine ethnische Zusammensetzung ein Politikum ersten Ranges. Als der unabhängige Nationalstaat ausgerufen wurde, verweigerte die Mehrheit der albanischen[2] Bevölkerung die Teilnahme am entsprechenden Referendum. Damit sendete sie ein klares Signal, dass ihrer Loyalität Bedingungen vorausgehen mussten, allen voran die Anerkennung als mehr als nur eine Minderheit unter anderen zu sein. Dieser Konflikt loderte während der 90er Jahre immer wieder auf. Dennoch war die die erste Priorität jeder Regierung die Stabilisierung des neuen Staates im internationalen Kontext.

Parallel fand aber in der – von Beginn an gespaltenen – Öffentlichkeit ein Wettbewerb der Nationalismen statt, in dem sich zwei Grundmythen gegenüberstanden. Zum einen stand da das mazedonische Narrativ der Autochthonie und des damit verbundenen Rechtes zum Nationalstaat. In diesem Narrativ sind die Albaner Hinzugezogene, deren Ziel es sei, mithilfe einer extrem hohen Geburtenrate die Mazedonier zahlenmässig zu überholen und den Staat zu spalten, zum Zweck der Errichtung eines gross-albanischen Staates. Dem gegenüber steht die Behauptung einer albanischen Mehrheit. Der Grundstein für die letztere wurde ebenfalls 1991 gelegt, als die neuen politischen Parteien der Albaner im damals noch jugoslawischen Mazedonien die Legitimität und Korrektheit der letzten jugoslawische Volkszählung anzweifelten und behaupteten, in der Republik Mazedonien die Mehrheit zu stellen. Die anderen, zahlreichen, aber numerisch eben kleineren Minderheiten fallen bei dieser Konfrontation der Narrative buchstäblich unter den Tisch. Aber dazu noch später.

1994 bestätigte eine ausserordentliche, von Europarat und EU finanzierte und überwachte Volkszählung die Zahlen von 1991 grosso modo (66,6% Mazedonier, 22,7% Albaner, der Rest sind Türken, Roma, Serben, muslimische Mazedonier und andere). Diese war allerdings von erheblichen politischen Problemen beschattet (vor allem ein sehr knapp vermiedener albanischer Boykott) und tat nichts dazu, die nationalistischen Narrative einzudämmen.[3] Zumal wurde ein Präzedenzfall geschaffen, der die Politisierung der statistischen Übung langfristig garantiert: zum ersten Mal wurde die Volkszählung von einer staatlichen Zensuskommission geleitet – einem politischen, von der Regierung eingesetzten Organ. Das Statistische Amt war - und ist nach wie vor - dieser Kommission untergeben. Damit ist das Primat des Politischen institutionalisiert und erhebliches Destabilisierungspotential wird nicht nur in Kauf genommen, sondern in das System eingebaut. All das passierte auf internationalen Vorschlag, wohlgemerkt.

Die Ethnisierung des Staates: Entwertung der Statistik

Die nächste Volkszählung 2002 wurde wegen des bewaffneten Konflikts im Vorjahr um ein Jahr verschoben. Im Jahr 2001 kam es zu Kämpfen zwischen albanischen bewaffneten Gruppen und den mazedonischen Sicherheitskräften, die durch Eingreifen der internationalen Gemeinschaft beendet wurden. Inzwischen hatte sich der mazedonische Staat als Folge des Konflikts erheblich verändert. Ein Rahmenabkommen, unter internationaler Vermittlung erreicht und welches den Konflikt beendete, löste tiefgreifende Verfassungsänderungen aus. Damit verwandelte sich der Nationalstaat de jure in einen Vielvölkerstaat, der allerdings de facto von einem binationalen power-sharing Mechanismus zwischen Parteien der Mazedonier und Albaner dominiert wird. Es ist in der Praxis eine Vorbedingung, eine Regierung bilden zu können, dass die stärkste albanische Partei an dieser beteiligt ist. Jeder Versuch, eine andere Formel umzusetzen, ist bislang gescheitert. Hinzu kommt eine Regelung, welche ethnischen Gruppen mit 20% oder mehr der Bevölkerung auf nationaler und lokaler Ebene weitreichende, vornehmlich sprachliche, Rechte[4] einräumt. Diese wurden im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte weiter ausgebaut.

 

Es ist also verständlich, dass die Volkszählung von 2002 extrem wichtig war, sollte sie ja den zukünftigen Status der Albaner definieren. Das machte andererseits auch diesen Zensus zum Politikum. Da sich das Land zumal gerade erst von dem bewaffneten, ethnischen Konflikt zu erholen begann, fiel den Entscheidungen um die Volkszählung eine extrem wichtige Rolle zu: Es musste alles getan werden, um die erheblichen ethnischen Spannungen zu neutralisieren.

Der Hauptkonflikt in der Vorbereitung ging darum, ob Personen, die länger als ein Jahr abwesend waren, mitgezählt werden sollten. Ursprünglich sollte das der Fall sein, was damit begründet wurde, dass es notwendig sei, verlässliche Zahlen über Abwanderung zu bekommen. Diese Personengruppe sollte aber nicht der Gesamtbevölkerung des Landes zugezählt werden. Nach langen, zähen Diskussionen, auch mit Vertretern des Europarats und von Eurostat, wurde diese Regelung fallengelassen. Nach Bekanntgabe der Ergebnisse (Mazedonier 64,2%, Albaner 25,2%), wurde die albanische Bevölkerung sofort von mazedonischen politischen Akteuren beschuldigt, falsche Angaben gemacht zu haben. Sie habe die Länge der Abwesenheit von Haushalsmitgliedern untertrieben, um die eigene Gruppe zahlreicher erscheinen zu lassen. Ein solches Verhalten konnte aber statistisch nicht nachgewiesen werden. Es gab natürlich Gerüchte, es habe sich um eine massive, organisierte Aktion gehandelt, Belege dafür gab es allerdings nicht.

 

Der Nebenkonflikt ging darum, ob die ethnische und religiöse Zugehörigkeit als Kategorien gezählt werden sollten. Im eben geschaffenen, neuen Staatsmodell war die erstere aber ein zentraler Punkt und die zweite war insbesondere den religiösen Gemeinschaften wichtig, die in den meisten politischen Parteien Verbündete fanden. Es wurde folglich dem ethnischen oder vielmehr nationalistischen Appetit aller zugutegetan und die von politischen Akteuren geschaffenen ethnischen Spannungen entschärft, zugunsten tiefer Frustrationen bei Bürgerinnen und Bürgern und rapide abnehmendem Vertrauen in Institutionen.

 

2002 wurde bestätigt, was schon 1991 und 1994 klargeworden war: im mazedonischen Kontext ist die Volkszählung für nationalistisch orientierte Politiker und ihr Gefolge primär eine Frage des «wie viele sind wir, und wie können wir verhindern, dass die anderen mehr sind.» Damit wird die wichtigere, die statistische Dimension des Zensus, völlig entwertet.

Der ethnische Tod der Statistik

Die 2011 gescheiterte Volkzählung ist vielleicht das grösste Argument für diese These. Die Zählung wurde wenige Tage vor Abschluss im Oktober abgebrochen, nachdem die mit der Durchführung beauftragte Kommission geschlossen zurücktrat[5].

2011 war das damalige Mazedonien schon auf dem besten Wege, ein autokratischer Staat zu werden. Anfang des Jahres hatte die Opposition das Parlament verlassen, aus Protest u.a. gegen die spektakuläre Schliessung eines unabhängigen TV-Senders. Innerhalb von drei Monaten kam es zur Auflösung des Parlaments und zur Ausrufung vorgezogener Wahlen im Juni. Es wurde dadurch politisch notwendig, die Volkszählung vom geplanten Termin im April auf Oktober zu verschieben. Die offizielle Begründung wurde darin gefunden, dass die staatliche Zensuskommission die vorgeschriebenen Fristen überschritten hatte. Die Koalition zwischen der rechts-nationalistischen VMRO-DPMNE (Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation – Demokratische Partei der Mazedonischen Nationalen Einheit) und der albanischen DUI (Demokratische Union für Integration) wurde zwar durch die Wahl bestätigt, das Gleichgewicht hatte sich allerdings zugunsten des albanischen Partners verschoben. Es gab von Anfang an Spannungen in der alt-neuen Koalition, da beide Partner versuchten, auf der Bühne nationaler Empfindsamkeiten zu punkten. Die Volkszählung sollte sich als eine willkommene Gelegenheit herausstellen. Deren Missbrauch ist irgendwann ausser Kontrolle geraten. Wann genau, das wurde nie veröffentlicht. Was aber war passiert?

 

 

Die Volkszählung basierte auf einem Gesetz, welches im Einklang mit Prinzipien von Eurostat festlegte, dass Personen, die sich länger als ein Jahr ausserhalb des Landes aufhielten, nicht gezählt werden sollten. Im Vorfeld gab es darum Streit im Prozess der Verabschiedung des Gesetzes. Sobald die staatliche Zensuskommission im Dezember 2010 eingesetzt wurde, kam es zu neuen Spannungen über die ethnische Zusammensetzung der 16,000 Zähler. Infolge der Spannungen kam es zu einem Boykott der nicht-mazedonischen Mitglieder der Kommission. Da die albanischen Parteien ihre Mitglieder nicht mobilisierten, bewarben sich Medienberichten zufolge lediglich 600 Albaner als Zähler. Damit war der kommende Konflikt schon voraussehbar.

 

Wenige Tage vor Anfang der Zählung eskalierte die Situation noch einmal. Davor hatte es in der Kommission lange Streit darüber gegeben, wie die im Gesetz festgehaltene Formel «gewöhnlicher Aufenthaltsort» zu verstehen sei. Die DUI wollte eine Regelung durchsetzen, dass Personen, die sich länger als ein Jahr ausserhalb des Landes aufhielten, trotzdem gezählt werden durften, wenn sie mindestens einmal im Jahr ins Land eingereist waren und Grund- oder Hausbesitzer waren. Zudem sollten nach ihrer Lesart Fotokopien von persönlichen Dokumenten akzeptiert werden, was das Gesetz eindeutig unterlief. Die Absicht war offensichtlich: den Anteil der albanischen Bevölkerung zu «sichern». Der Vorstoss wurde von der mazedonischen Mehrheit in der Kommission geblockt. In Folge dieses ungelösten Konflikts traten zwei Tage vor Beginn der Zählung der stellvertretende Chef der Kommission und die albanischen Mitglieder, einen Tag später die mazedonische Chefin zurück. Dennoch beharrte die Regierung auf der Durchführung der Zählung und ernannte neue Mitglieder in die Kommission.

 

Die Zählung begann am 1. Oktober, allerdings nicht im ganzen Land. Es kam zu massiven Verzögerungen bei der Bildung der ethnisch gemischten Teams. Gleichzeitig gaben wohl beide Seiten die Parole aus, die «eigenen» Zahlen so hoch wie nur möglich zu bringen. Nach zehn turbulenten Tagen trat die gesamte Kommission erneut zurück und die Zählung wurde gestoppt. Die Gründe wurden nie offiziell genannt, es ist aber aus unterschiedlichen Quellen durchgedrungen, dass die Zahlen so hoch waren[6], dass das Ergebnis auf keinen Fall hätte öffentlich vertreten werden können.

 

Staat ohne Daten

In dieser gesamten Zeit operiert das Land praktisch ohne brauchbare Daten. Seit 2002 ist es zu einer erheblichen Neudefinierung der administrativen Struktur des Landes gekommen, das jetzt in 80 Gemeinden und der Stadt Skopje eingeteilt ist. Ebenfalls kam es zu einer Neuordnung der Wahlbezirke. Die schon in der 90er Jahre begonnene Dezentralisierung wurde weitergeführt und Gemeinden erhielten weitgehende Kompetenzen, welche die Infrastruktur, das Sozial-, Erziehungs- und Gesundheitswesen betreffen. In all diesen Sektoren ist es nicht nur unverantwortlich, ohne verlässliche Daten zu operieren, es kann auch tatsächlich lebensgefährlich werden.

 

Zusätzlich muss zu alldem auch wieder die ethnische Dimension gezählt werden, welcher in Nordmazedonien fast automatisch Sicherheitsaspekte inhärent sind. Wie schon erwähnt, gibt es die 20 Prozent-Regel auf nationaler und lokaler Ebene: ethnische Gruppen, welche diese willkürlich gewählte Zahl erreichen, können auf Gemeindeebene ihre Sprache als Amtssprache nutzen, sowie ihre nationalen Symbole/Fahnen hissen. Es gibt in Folge im Lande zahlreiche zweisprachige und einige dreisprachige Gemeinden. Zudem wurde 2020 Albanisch per neuem Sprachengesetz zur zweiten offiziellen Sprache des Landes gekürt. Es braucht daher nicht zu wundern, dass in gemischten Gemeinden ein stiller Kampf um die Vorherrschaft geführt wird. In nationalistischen Kreisen wird mit dem Fall der einen oder anderen Gruppe unter 20% spekuliert, um insbesondere Zweisprachigkeit rückgängig zu machen. Dass das nicht ohne erheblichen Konflikt passieren könnte, sei hier unterstrichen.

 

Die Zukunft der Ressourcenverteilung

Einer der permanenten, statistisch auch nachvollziehbaren, Vorwürfe aus den mehrheitlich albanischen Gemeinden ist, dass Ressourcen unfair verteilt werden. Tatsächlich ist das in der Vergangenheit oft unter dem Vorwand passiert, dass «die Albaner» ja sowieso keine Steuern zahlen würden, ein gängiges Stereotyp für "die Anderen». Seit es einem Schlüssel für die Verteilung von Ressourcen gibt und albanische Regierungsbeteiligung ernstgenommen wird, ist die Sache etwas komplexer geworden, und die Steuerung hat oft eher politische als ethnische Gründe. Oppositionelle, mehrheitlich albanische Gemeinden werden tatsächlich gerne hintangestellt, aber eben von albanischen Regierungsbeamten. Gleiches passiert auch auf der mazedonischen Seite. Insbesondere während der vorherigen Regierungskoalition, als es zur Verwischung der Trennlinien zwischen Partei und Staat kam, so schlimm, dass sogar die EU von «state capture»[7] sprach, wurde Ressourcenverteilung auf lokaler Ebene als Belohnung und als Druckmittel zugleich eingesetzt.

 

 

Das hat sich in den letzten Jahren etwas gelegt, es gibt aber nach wie vor ein deutliches Entwicklungsgefälle. Ein solches hat immer einen negativen Einfluss auf soziale Kohäsion. Wenn zu dem Gemisch noch nationalistische Ressentiments und eine immer weiter in die Ferne rückende EU-Beitrittsperspektive dazugezählt werden, ergibt das reichhaltiges Konfliktpotenzial.

In diesem Kontext wäre es extrem wichtig, wenn die anstehende Volkszählung einigermassen brauchbare Daten produzieren könnte. Es erscheint aus dieser Perspektive aber ebenso unwahrscheinlich, dass sich die bisherige, ethno-politisch gefärbte Haltung zur Volkszählung ändern würde, sind es doch genau die ethnischen Daten, welche die Grundlage für kommende Verteilungskonflikte darstellen.

Die Volkszählung 2021

Die anstehende Volkszählung soll die erste sein, die digital ausgeführt wird. Die Zähler werden statt mit Papierstapeln mit Tablets ausgestattet, und im Vorfeld, während des gesamten März, läuft die Zählung der im Ausland wohnhaften Staatsbürger online. Als zusätzlicher, erschwerender Faktor kommt die Coronavirus-Pandemie hinzu. Es wurden Protokolle erarbeitet, die das Risiko für Zähler und Gezählte minimieren sollen. Es bleibt dennoch auch hier die Frage des Vertrauens in die Protokolle und darin, dass sich beide Seiten daranhalten.

 

Vertrauen ist nach wie vor das entscheidende Stichwort. In einer überpolitisierten Gesellschaft, in der es die primäre Aufgabe politischer Parteien zu sein scheint, die Gegnerseite mehrfach täglich anzugreifen, und in der staatliches Versagen an der Tagesordnung steht, ist das Vertrauen in Institutionen[8] entsprechend gering. Dabei setzt die Volkszählung genau dieses Vertrauen voraus, wenn Bürgerinnen und Bürger ihre persönlichen Daten preisgeben sollen.

Das Gesetz, welches die Volkszählung definiert, wurde im Parlament im Januar mit knapper Regierungsmehrheit und unter Boykott der Opposition erlassen. Diese fing umgehend an, Unterschriften gegen das Gesetz zu sammeln. Die Aktion fruchtete nach eigenen Angaben in mehr als 100,000 Unterschriften. Seitdem macht sich die oppositionelle VMRO-DPMNE dafür stark, die Zählung wegen der Pandemie zu verschieben. Im Gegenfall droht sie damit, das Ergebnis nicht anzuerkennen. Über soziale Medien wird schon länger daran gearbeitet, das Ergebnis unglaubwürdig erscheinen zu lassen. Nun hat sich zum ersten Mal auch die orthodoxe Kirche zum Sprachrohr der Opposition gemacht und fordert einen Aufschub. Ähnliche Töne konnten in den letzten Wochen auch von albanischen Politikern gehört werden. Sogar hohe Funktionäre der Regierungspartei DUI haben sich dazu hinreissen lassen, die Anerkennung der Ergebnisse verweigern, sollte die albanische Bevölkerung die 20 Prozent-Marke nicht erreichen.

 

Hinzu kommt dieses Jahr noch ein äusserer, destabilisierender Faktor. Die Zählung fällt in die Zeit der Parlamentswahl in Bulgarien. Die dortige populistische Regierungspartei GERB und insbesondere der kleinere Koalitionspartner VMRO fahren eine harte nationalistische Kampagne gegen Nordmazedonien. Bulgarien hat im Herbst 2020 die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen blockiert, unter Hinweis auf Ungereimtheiten über die gemeinsame Geschichte und vor allem die mazedonische Sprache, welche von einem Teil der bulgarischen Öffentlichkeit nicht als selbständig anerkannt wird. Im Vorfeld der mazedonischen Volkszählung hat sich Bulgarien nun die bulgarische Minderheit in Nordmazedonien als Thema vorgenommen und wirft Nordmazedonien Unterdrückung und die Verweigerung sprachlicher Rechte vor.

 

Tatsächlich haben seit dem EU-Beitritt Bulgariens 2007 angeblich über 80,000 Mazedonier die bulgarische Staatsbürgerschaft und damit einen EU-Reisepass erhalten, in extrem unbürokratischen, nahezu Instant-Verfahren, die erst 2012 auf Druck der EU etwas erschwert wurden. Warnungen, dass Bulgarien damit nationalistische Bevölkerungspolitik betreibe, wurden zumeist ignoriert. In einem Land mit zeitweise über 30 Prozent Arbeitslosigkeit brauchte das auch nicht weiter zu verwundern: Der bulgarische Pass war das Ticket zu Arbeitsplätzen in der EU, aber im Zuge des Freizügigkeits-Abkommens auch in der Schweiz.

Nun ist aber der Augenblick gekommen, in dem diese Doppelbürger zum politischen Kapital werden. Die von bulgarischer Seite benutzte Sprache ist dabei zeitweise aggressiv und erniedrigend, zeitweise freundlich und herablassend. Premier Borissov versucht zudem, europäischen Ängsten zuzuspielen, indem er Russland dessen bezichtigt, sich in die mazedonische Volkszählung einzumischen, und implizit der mazedonischen Regierung vorwirft, Komplizin dabei zu sein.

Das Gesetz selbst beinhaltet wieder die bekannten Ambiguitäten, vor allem bei der Formulierung über den «gewöhnlichen Aufenthaltsort». Zudem gibt es zunehmend Berichte, dass die für den Online-Zensus benutzte Software fehlerhaft sei, und dass es ohne grosse Mühe möglich ist, sich mittels VPN aus dem Land selbst einzuloggen und damit falsche Daten anzugeben. Die Antwort seitens der Verantwortlichen lautet lediglich, dass solches Verhalten illegal sei und dass es bestraft werden würde. Wie das gehen soll, darüber herrscht Stille. Als Anekdote sei nur darauf hingewiesen, dass der Online Zensus unter dem Kapitel «ethnischer Hintergrund» auch die Kategorie «Belgier» vorsieht. Von einer Operation, in der die ethnische Dimension fast wichtiger ist als alles andere, sollte ein solcher Fehler doch vermieden werden können, möchte man meinen.

 

Als Fazit möchte ich lediglich noch einmal unterstreichen, dass das Vertrauen in die Volkszählung als statistische Übung im Lande niedrig ist. Ich habe versucht aufzuzeigen, dass es sich in der Tat um einen hochpolitischen Prozess handelt, der riskiert, aus internen und externen Gründen die Stabilität Nordmazedonien negativ zu beeinflussen.

Harald Schenker


[1] Tim Judah - Wildly Wrong: North Macedonia’s Population Mystery. In BalkanInsight, 14.05.2020: https://balkaninsight.com/2020/05/14/wildly-wrong-north-macedonias-population-mystery/

 

[2] Wenn ich im Text über „Mazedonier“ oder „Albaner“ spreche, meine ich damit immer die ethnischen Gruppen innerhalb Nordmazedoniens, nicht die Staatsbürger der jeweiligen Länder.

 

[3] Für Näheres über die 1994er Volkszählung siehe Victor A. Friedman: Observing the Observers. Language, Ethnicity and Power in the 1994 Macedonian Census and Beyond. In: Report of the South Balkans Working Group of the Council on Foreign Relations Center for Preventive Action, New York 1996.

 

[4] Es handelt sich hier um eine Vereinbarung aus dem „Ohrider Rahmenabkommen“, welches den Konflikt 2001 beendete. Die 20% beziehen sich dabei klar auf die Albaner und stellen de facto die Marge für die Teilnahme am power-sharing System dar. Andere Minderheiten wurden dabei absichtlich aussen vorgelassen.

 

[5] Für eine detaillierte, wenn auch nicht sehr fokussierte Analyse des Scheiterns, siehe http://nvoinfocentar.mk/wp-content/uploads/2014/06/Analiza-Popis-04.06.2014-angliski.pdf

 

[6] Manche Quellen sprechen von 3, andere von nahezu 4 Millionen gezählten Einwohnern. Das wäre einer extrem realitätsfernen Verdoppelung der Bevölkerung im Vergleich zu 2002 gleichgekommen.

 

[7] European Commission; Key findings of the 2016 Report on the former Yugoslav Republic of Macedonia https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/MEMO_16_3634

 

[8] Für Details siehe eine Umfrage des International Republican Insitute von Anfang 2020: https://www.iri.org/sites/default/files/iri_n._macedonia_february_2020_poll_presentation.pdf