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Die "managed conflicts" auf dem Westbalkan könnten eine gefährliche Eigendynamik entwickeln

Q&A zur aktuellen Lage

Milorad Dodik, das serbische Mitglied des dreiköpfigen Staatspräsidiums von Bosnien und Herzegowina, will die Republika Srpska vom Gesamtstaat abspalten. Im Dezember beschloss das Parlament in Banja Luka den Austritt aus der Armee sowie dem Justiz- und Steuersystem. De facto bedeutet dies eine Sezession der serbischen Entität. Auf dem Westbalkan steigt die Angst vor einem neuen bewaffneten Konflikt. Das Team von Balkan+ beantwortet die drängendsten Fragen und ordnen den scheinbar lokalen Konflikt in die geopolitische Grosswetterlage ein.


Postmoderne Putin-Ikone in Andrićgrad, einer Art "historischem Oultlet-Dorf" bei Višegrad in der Republika Srpska

1. Milorad Dodik droht schon länger, die Republika Srpska institutionell vom Gesamtstaat abzulösen. Weshalb kommt Bosnien erst jetzt in die internationalen Schlagzeilen?

Es ist aus unserer Sicht nicht eindeutig einzuordnen, weshalb Dodik gerade jetzt die grosse Keule auspackt. Es wird momentan viel darüber spekuliert, ob es in mit der Situation in der Ukraine zusammenhängt. Dafür gibt es allerdings keine Beweise. Was aber sicherlich einen Einfluss haben kann, sind die bevorstehenden allgemeinen Wahlen in Serbien im April. Zum ersten Mal seit längerem ist Präsident Aleksandar Vučić mit einer ernsthaften Opposition konfrontiert, die sein autoritäres Herrschaftssystem gefährden könnte. Eine Konzentration auf die "serbische Sache" würde seine Position stärken.

Vučićs Mann fürs politische Grobe, Aleksandar Vulin, propagiert den Begriff "Srpski Svet". Diese "serbische Welt" umfasst neben der Republika Srpska in Bosnien auch die serbisch besiedelten Gebiete Kosovos und Montenegro. Die Konflikte in den drei Nachbarländern betreffen auf den ersten Blick jeweils einen etwas anderen Gegenstand, hängen aber inhaltlich und machtpolitisch zusammen: Vučić und sein Umfeld respektieren die Grenzen zu den Nachbarländern Serbiens nicht und streben eine einheitliche Führung für alle Serbinnen und Serben an. Dies gleich als Wiederauferstehung der Idee eines "Grossserbiens" zu bezeichnen, wäre zu verknappt: Es passt zum Machtsystem aller Autokraten, eindeutige Situationen zu kreieren und Beinahe-Konflikte am Leben zu erhalten. Dies schafft erstens immer neue Narrative, um die eigene Herrschaft zu sichern, und ermöglicht es der Organisierten Kriminalität dies- und jenseits der Grenzen ihre Geschäfte zu tätigen.


Diese "manged conflicts" dauern unterdessen praktisch dreissig Jahre an und waren stets unter Kontrolle der lokalen Machthaber. Die Kriegsrhetorik wird nur so weit hochgeschraubt, bis es gefährlich werden könnte. Weder ein handfester Konflikt noch ein echter Friede war bisher im Interesse der herrschenden Akteuere auf dem Westbalkan.

Trotzdem geht Milorad Dodik mit seinen Abspaltungsabsichten diesmal sehr weit. Deshalb hat Bosnien in Washington und auch in Brüssel eine höhere Dringlichkeit erhalten. Einen weiteren Konflikt in Europa kann sich der Westen nicht leisten. Dazu ist die Situation an der ukrainischen Grenze, aber auch im Mittelmeerraum zu angespannt. Die Schlagzeilen in der New York Times, aber auch die Entsendung von Top-Diplomaten des State Departments in die Region sind ein deutliches Zeichen, dass die US-Regierung – anders als beim Zerfall Jugoslawiens - nicht zu spät kommen will.

2. Die New York Times schreibt, Bosnien steht vor der grössten Krise seit dem Ende des Krieges 1995. Droht ein neuer bewaffneter Konflikt? Wie sähe dieser aus? Verfügen die Akteure über die Mittel, Krieg zu führen?

Bosnien-Herzegowina ist seit der Unterzeichnung des Abkommens von Dayton 1995 nie wirklich zur Ruhe gekommen. Dies ist grundsätzlich eine logische Entwicklung, da dieser Vertrag schon immer eine eigentliche Übergangslösung war. Die Ideologie, aber auch die Ängste der damals kriegsführenden Parteien sind immer noch lebendig. Die damaligen Protagonisten hatten den Vertrag unter grossem internationalem Druck unterzeichnet. Aber ein zukunftstauglicher Konsens wurde trotz internationaler Bemühungen nicht gefunden. Trotz des gegenwärtigen Säbelrasselns kann man aber davon ausgehen, dass keine der involvierten Seiten in Bosnien und Herzegowina ein Interesse daran hat, einen neuen bewaffneten Konflikt im Massstab der 1990er Jahre zu führen – weder finanziell noch mit Blick auf die politische Opportunität gegenüber der eigenen Bevölkerung. Zudem existiert die Vojska Republike Srpske nicht mehr, die 1992 aus der jugoslawischen Armee hervor gegangen war und über schwere Waffensysteme wie Panzer und Artillerie verfügte.

Trotzdem lohnt sich ein Blick auf die militärischen Potenziale:

Die heutige Armee des bosnischen Gesamtstaates (Oružane snage Bosne i Hercegovine) besteht im Wesentlichen aus drei leicht mechanisierten Infanteriebrigaden, einer schwachen Luftwaffe und drei nach ethnischen Gesichtspunkten gebildeten Regimentern. Dem Gesamtstaat fehlen die Mittel für einen energischen, mechanisierten Stoss zur Rückgewinnung von besetzen Geländeteilen. Die Republika Srpska dagegen hat ihre Polizeikräfte militarisiert und ausgebaut. Diese wurden von russischen Spezialkräften ausgebildet und sind in der Lage, begrenzte Räume zu besetzen und zu halten. Zusammen mit Russland wurden zudem Luftlandeoperationen geübt. Die mit leichten Panzern ausgerüsteten Truppen wurden in einer ersten Phase über den bulgarischen Luftraum nach Niš in Serbien gebracht, wo sich ein russisches Zivilschutzzentrum befindet, und in einer zweiten Phase auf den Flughafen Banja Luka geflogen.

Ein bewaffneter Konflikt würde, ähnlich wie in der Ostukraine, wohl in einem Kleinstmassstab geführt. Eine militärische Pfandnahme auf dem Westbalkan könnte aber in der geopolitisch angespannten Lage die Glaubwürdigkeit des Westens massiv untergraben. Hier rächt es sich zum wiederholten Mal, dass Jugoslawien als Pufferzone zwischen den Interessen der Nato und der Sowjetunion (oder Russlands) nicht mehr existiert.

3. Im Sommer 2021 zog die serbische Armee an der Grenze zu Kosovo demonstrativ schwere Mittel zusammen und forderte damit die Nato heraus. In Montenegro kam es bei der Einsetzung des serbisch-orthodoxen Metropoliten in Cetinje zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Serbien propagiert eine "serbische Welt" (Srpski svet). Wie sind die Konflikte miteinander verknüpft? Droht ein regionaler Konflikt?

In Kosovo ging es im Sommer 2021 - zumindest vordergründig - um Autokennzeichen. Aber im Grunde genommen geht es stets um dieselbe Frage: Wird Serbien die Unabhängigkeit Kosovos anerkennen – oder die Staatlichkeit der ehemals serbischen Provinz weiterhin negieren. Bemühungen zur Deeskalation seitens der EU haben sich als teilweise erfolgreich erwiesen. Auch bei den Spannungen in Montenegro scheinen auf den ersten Blick Streitereien um Restitutionen, Privilegien der beiden orthodoxen Kirchen und deren allgemein gültigen Deutungshoheiten der Religion als Auslöser identifizierbar zu sein. Tatsächlich aber geht es auch darum, dass durch den Eintritt Montenegros in die NATO die traditionell ausgezeichneten Beziehungen zwischen Belgrad und Podgorica auf die Probe gestellt wurden. Die Reibungsflächen in beiden Fällen sind und bleiben geopolitischer Natur.

Ein militärischer Angriff auf die montenegrinische Souveränität aktiviert die Beistandspflicht der anderen Nato-Staaten gemäss "chapter 5" der Atlantik-Charta. Dies meinte der ehemalige US-Präsident Trump mit seiner Aussage, Montenegro könnte den Dritten Weltkrieg auslösen.

Kosovo ist ein Protektorat der Nato. Im Frühsommer 2021 trainierte die US-Army im Rahmen der grossen Verschiebungsübung "DEFENDER EUROPE 21" zusammen mit der Kosovo Security Force, dem Nukleus der kosovarischen Armee, die von Serbien strikt abgelehnt – und auch völkerrechtlich umstritten ist. Die UNO-Resolution 1244 und das militärisch-technische Abkommen von Kumanovo, also die beiden Dokumente, die 1999 den Rückzug der serbischen Armee aus Kosovo absicherten, sehen die Nato-Friedenstruppe KFOR (Kosovo Force) als einzige Streitkraft auf dem Gebiet Kosovos vor. Die offene Zusammenarbeit der US-Army mit KSF ist für Belgrad eine Provokation. Die militärischen Muskelspiele gehen also nicht nur von Serbien (oder Russland im Hintergrund) aus.

Zudem hat der Westen schon in der Endphase des Kalten Kriegs und später beim Zerfall Jugoslawiens einseitig die Interessen Kroatiens unterstützt. Doch die kroatische Unabhängigkeitsbewegung vor dem Krieg löste bei der serbischen Bevölkerung ausserhalb der damaligen Teilrepublik existenzielle Ängste aus. Die Erinnerung an das brutale Ustaša-Regime, das Juden, Roma und Orthodoxe so stark gequält hat, dass selbst der damalige "Deutsche General in Agram", der österreichische Adelige Glaise von Horstenau, zur Mässigung aufrief, ermöglichte es Slobodan Milošević, die sozialistische Propaganda in nationalistische Narrative zu transformieren. Die serbischen Ängste sind begründet, werden aber immer wieder missbraucht.

Auch heute fühlt sich Serbien umzingelt. Kroatien, Montenegro und Albanien sind Nato-Mitglieder, ebenso Ungarn, Bulgarin und Rumänien. Dazu kommt die oben erwähnte Präsenz des westlichen Bündnisses in Kosovo.

Anfang Jahr hat das US Special Operations Command Europe (SOCEUR) ausserdem angekündigt, sein "Forward HQ" (nach Schweizer Terminologie: "KP Front") der Spezialkräfte in Albanien aufzubauen. Dies dürfte wohl primär eine Reaktion auf die erhöhte Spannung im östlichen Mittelmeer zu verstehen sein, erzeugt aber auch Wirkung auf dem Westbalkan. Das Autobahnnetz in Albanien und nach Kosovo ist auf rasche Verschiebungen schwerer Kräfte vom Hafen von Durrës in die US-Militärbasis Bondsteel in Kosovo bzw. von Montenegro durch Albanien nach Griechenland ausgelegt.

Der Übergang Jarinje zwischen Serbien und Kosovo im Sommer 2021.
Der "kleine Grenzverkehr" ist der Normalfall, heisse Phasen die Ausnahme.

4. Die USA verhängen gegen Milorad Dodik Sanktionen, zuvor setzen sie verschiedene Exponenten der serbischen Machtelite in Kosovo auf die schwarze Liste. Weshalb werden nicht auch Akteure in Serbien selbst sanktioniert?

Vučić war der Protegé der eben abgetretenen deutschen Kanzlerin Angela Merkel. Sie – und auch weite Teile der EU-Staaten – sahen in ihm einen stabilisierenden Faktor. Sie kauften ihm ab, sich von seiner nationalistischen Vergangenheit gelöst zu haben. Vučić war 1999, also während der Nato-Kampagne gegen Serbien, Informationsminister von Slobodan Milošević und Parteigänger von Vojslav Šešelj, einem nationalistischen Kriegstreiber. Zu Beginn folgte Vučić brav dem Comment des Westens, entschuldigte sich für die Verbrechen in Srebrenica und gab den grossen Europäer.

Später nutzte Vučić die Krise des Westens in der Ära Trump zur Festigung seiner Macht. Die Verbindung seiner Parteigänger zur Organisierten Kriminalität sind unübersehbar, aber schwer zu beweisen. Die Aussenpolitik Serbiens wurde zunehmend aggressiver. Dazu begann Vučić seine Armee mit westlicher, chinesischer und russischer Technik zu modernisieren. Die serbische Waffenindustrie produziert unterdessen eigene Kampfroboter. Die Luftwaffe erhält Mig-29 auf dem neuesten Stand der Technik. Die serbische Armee - und damit Vučić - ist wieder ein Machtfaktor auf dem Westbalkan. Die Sanktionen gegen seine Verbündeten sind Fingerzeige. Washington will Vučić aber nicht zum Opfer machen. Zudem ist die Opposition noch nicht bereit, die Macht zu übernehmen.

Die USA haben aber mit der Übung "DEFENDER EUROPE 21" deutlich gemacht, dass Serbien von der Nato umgeben ist – und die US-Army jederzeit starke Truppenverbände östlich und westlich des Landes konzentrieren kann. Doch an einem weiteren Konflikt in Europa ist Washington, wie oben dargelegt, nicht interessiert.

Ausschnitt aus einer grafischen Darstellung der US-Army zur Übung "DEFENDER EUROPE 21"

5. Welche Rolle spielen der Konflikte um die Ukraine oder die zunehmende Konfrontation mit China? Nutzen die Grossmächte den Westbalkan als Nebenschauplatz ihrer Ambitionen - oder nützen die lokalen Akteure die geopolitischen Spannungen für ihre eigenen Interessen?

Die EU hat es verpasst, dem Westbalkan eine echte Perspektive zu bieten. Dies hat die westliche Position massiv geschwächt. Die europäischen Flirts mit verschiedenen Autokraten, etwa mit Vučić oder dem unterdessen inhaftierten Hashim Thaçi in Kosovo, haben zudem die Glaubwürdigkeit der demokratisch-rechtsstaatlichen Werte massiv geschwächt. Obschon Firmen aus der EU, Deutschland und auch der Schweiz noch immer die wichtigsten Investoren auf dem Westbalkan sind, haben sich autoritäre Staaten wie China, Russland, die Emirate und die Türkei ausgebreitet. Sie ermöglichen es den lokalen Akteuren, wechselnde Partner für ihre eigene Interessen zu finden. Es ist den geopolitischen Schwergewichten bisher aber nicht gelungen, den Westbalkan als wirklichen Nebenschauplatz zu nutzen. Viel eher haben sie ein Interesse, einander möglichst nicht ins Gehege zu kommen. 

Wenn es um die Beziehungen zwischen Moskau und Washington geht, so stellt Genf ein erstes qualitativ gutes Podium dar, um an der Verbesserung der mittlerweile schlechten Beziehungen zu laborieren. Dieser bilaterale Austausch mit dem Donbas-Konflikt als Hauptpunkt der Agenda, dürfte eine Art Ohrfeige für die EU sein. Trotzdem war dieses Treffen aber mehr als überfällig. Es wäre angezeigt, bei solchen Treffen auch den Westbalkan auf die Agenda zu nehmen.

Die Eigendynamik der "managed conflicts" auf dem Westbalkan ist nicht zu unterschätzen und könnte im Kampf der Grossmächte – wie schon oft – ungewollt die Anschubenergie für einen grösseren Konflikt liefern.

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