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EXKLUSIV: Ungewisse Bemühungen für Friedensgespräche zwischen tadschikischer Dschihadisten-Gruppe in Afghanistan und tadschikischer Regierung

Februar 2024

Wie das Swiss Institute for Global Affairs (SIGA) exklusiv enthüllen kann, versuchen die afghanischen Taliban mittels separater geheimer Treffen mit tadschikischen Beamten und der Dschihadisten-Gruppe Ansorullah Tadschikistan in Afghanistan, Friedensverhandlungen zwischen diesen beiden Seiten in Gang zu bringen. Solche Bemühungen sind jedoch von Schwierigkeiten geplagt und deren Resultate bleiben ungewiss wenn nicht zweifelhaft — weshalb Bedenken über ausländische Dschihadisten in Afghanistan geopolitisch brisant bleiben.

Der Palast der Nation (offizielle Residenz des tadschikischen Präsidenten) und tadschikische Flaggen im Zentrum der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe (Franz J. Marty, 26. April 2013)

Wie alles begann

Am 8. November 2023 fuhr eine Autokolonne durch die nordafghanische Provinz Kunduz in Richtung des Flusses Pandsch, der die Grenze zwischen Afghanistan und Tadschikistan markiert. Dort angekommen überquerten die Fahrzeuge die Brücke zwischen Schir Chan Bandar auf der afghanischen und Pandsch-i Poyon auf der tadschikischen Seite. Wenige bemerkten den Konvoi. Noch weniger wussten um die Identität der Männer in den Autos: hochrangige Taliban-Beamte, namentlich Rahmatullah Najib, der zweite stellvertretende Direktor der berüchtigten Taliban-Geheimpolizei, des Generaldirektorats für Nachrichten (General Directorate of Intelligence (GDI), sowie Vertreter der Taliban-Ministerien für Verteidigung und innere Angelegenheiten.

 

Während den darauffolgenden Tagen trafen sich diese Taliban mit tadschikischen Beamten an einem nicht bekannt gegebenen Ort in Tadschikistan. Gemäss einer Quelle, die in direktem Kontakt mit einem Talib steht, der Kenntnisse der genannten Ereignisse hat und auch Obenstehendes berichtete, war es die tadschikische Seite, die das Treffen angestossen hatte, namentlich um Ansorullah Tadschikistan zu diskutieren.

 

Tadschikische Beamte hatten die Taliban irgendwann nach einem sich am 5. September 2023 ereigneten Vorfall kontaktiert, in dem tadschikische Sicherheitskräfte drei schwer bewaffnete Männer in der osttadschikischen Provinz Badachschan getötet hatten. Gemäss tadschikischen Behörden waren diese drei Männer Mitglieder von Ansorullah Tadschikistan und waren nur Tage zuvor aus der afghanischen Provinz Badachschan in die gleichnamige tadschikische Provinz eingedrungen, wo sie vorgehabt haben sollen, «terroristische» Operationen zu verüben (siehe hier und hier).

 

Ansorullah Tadschikistan ist eine dschihadistische Gruppe, die im Jahre 2006 vom tadschikischen Staatsbürger Amriddin Tabarov gegründet wurde, welcher im Sommer 2015 in Afghanistan getötet worden war. Die Gruppe hat sich zum Ziel gesetzt, die tadschikische Regierung, die von Ansorullah-Mitgliedern als ungläubiges russisches Marionettenregime gesehen wird, mit einer islamischen Regierung zu ersetzen. Dies gesagt liegen auch Informationen vor, wonach Ansorullah Tadschikistan mit al-Qa’ida in Verbindung steht. Und der oben genannte Vorfall war laut tadschikischen Behörden nicht das erste feindliche Eindringen von Ansorullah-Mitgliedern aus Afghanistan in Tadschikistan, da es bereits im April 2023 zu einem ähnlichen Fall gekommen war.

Ort der berichteten Grenzüberquerung von Ansorullah-Mitgliedern im April 2023; Blick von der afghanischen Seite Richtung Yasgulem Tal (Mitte) in Tadschikistan (Franz J. Marty, Mitte Mai 2023)

Die afghanischen Taliban bestreiten offiziell, dass sich Ansorullah-Tadschikistan-Mitglieder oder andere ausländische Dschihadisten in Afghanistan aufhalten. Dies machen sie trotz unwiderlegbarer Beweise über Ansorullah-Mitglieder in Nord-Afghanistan, deren Anwesenheit in privaten Gesprächen auch von Taliban bestätigt wird. Glaubwürdige Schätzungen sprechen von mindestens einigen Dutzenden bis zu einigen Hundert bewaffneten Ansorullah-Mitgliedern in Afghanistan, wobei andere Quellen gar Zahlen in den sehr tiefen Tausend angeben.

Ein Graffiti auf einem Felsen auf der afghanischen Seite der afghanisch-tadschikischen Grenze in Nussai, Badachschan, das auf den Nom de Guerre des Ansorullah-Tadschikistan-Mitgliedes Mehdi Arsalon verweist. Verschiedene Quellen, inklusive Taliban, bestätigten die Anwesenheit von Mehdi Arsalon und anderen Ansorullah-Mitgliedern in Afghanistan.

(Franz J. Marty, 11. Mai 2023)

Aufgrund dieser Vorfälle hätten tadschikische Beamte die Taliban während des Treffens im November 2023 deshalb zunächst um die Auslieferung von Ansorullah-Tadschikistan-Mitgliedern ersucht, welche praktisch alle tadschikische Staatsbürger seien, erklärte der Talib, der mit der Sachlage vertraut ist, der Quelle von SIGA weiter. Zu einem Zeitpunkt hätte die tadschikische Regierung den Taliban gar eine Liste von Ansorullah Mitgliedern und deren genauen Aufenthaltsorten in Afghanistan zugestellt. Diese Anfrage zur Auslieferung wurde von den Taliban jedoch als nicht durchführbar und nicht zielführend abgelehnt. Im Gegenzug hätten die Taliban angeboten, Friedensgespräche zwischen der tadschikischen Regierung und Ansorullah Tadschikistan zu vermitteln, erklärte die Quelle.

 

Dass es im November 2023 in Tadschikistan in der Tat zu einem Treffen zwischen den Taliban und tadschikischen Beamten gekommen war, wurde SIGA von einer gut unterrichteten anderen Quelle bestätigt, die aufgrund der Sensitivität der Angelegenheit um komplette Anonymität bat. Während diese Quelle keine Angaben zu den Details des Treffens machte, sagte sie, dass die Taliban der tadschikischen Regierung bereits in der Vergangenheit angeboten hätten, Friedensgespräche mit Ansorullah Tadschikistan zu vermitteln.

 

Wie dem auch sei fuhr die Fahrzeugkolonne nach ein paar Tagen wieder zurück über die Grenzbrücke und Richtung Kabul, wo die Taliban-Führung auf eine definitive Antwort von Tadschikistan wartete.

Schwierige Bemühungen für Gespräche

Anfang Dezember 2023 sandte die tadschikische Regierung schliesslich eine schriftliche Antwort an die Taliban. Gemäss einer afghanischen Quelle, die ein Photo des fraglichen Schriftstückes gesehen hat, erklärte sich die tadschikische Regierung grundsätzlich damit einverstanden, eine Delegation zu ernennen, die sich mit Ansorullah Tadschikistan zu Gesprächen an einen Tisch setzt. Die zuvor genannte andere Quelle bestätigte im Allgemeinen, dass es zwischen Tadschikistan und den Taliban in der Tat zu offiziellen Briefwechseln über die Vermittlung von Friedensgesprächen gekommen sei ohne weitere Einzelheiten zu erwähnen.

 

Ansorullah Tadschikistan davon zu überzeugen, mit der tadschikischen Regierung zu verhandeln, sollte sich für die Taliban dann als schwieriger herausstellen. Laut der zitierten afghanischen Quelle trafen sich die Taliban zwei Mal mit Ansorullah-Mitgliedern in Afghanistan, einmal im Dezember 2023 und einmal im Januar 2024. In diesen Treffen lehnten Ansorullah-Mitglieder zunächst jegliche Versöhnung mit der tadschikischen Regierung, die sie als ihren ungläubigen Erzfeind sehen, der bezwungen werden muss, rundum ab.

 

Nach stundenlangen Bemühungen der Taliban hätten Ansorullah-Mitglieder ihre Position zumindest etwas aufgeweicht, führte die Quelle weiter aus. Ansorullah gab schliesslich an, dass die Gruppe mit der tadschikischen Regierung verhandeln würde, falls diese eine Reihe von Vorbedingungen erfüllen würde. Im zweiten Treffen überreichten Ansorullah-Mitglieder den Taliban dementsprechend eine schriftliche Liste ihrer Forderungen. Die kühnen Vorbedingungen beinhalteten, dass die tadschikische Regierung:

  • eine islamische Regierung ausrufen müsse;
  • arrangieren müsse, dass sämtliches russisches Militärpersonal tadschikischen Boden verlasse[1];
  • gefangen gehaltene Ansorullah-Tadschikistan-Mitglieder freilassen müsse; und
  • Madrassas (religiöse Schulen) in Tadschikistan einrichten müsse.

 

Da solche hohen Forderungen alles andere als realistisch sind, umso mehr als diese als Vorbedingungen für Gespräche und nicht Ziele für eine eventuelle Einigung gemeint waren, verhandelten die Taliban die Sache mit Ansorullah Tadschikistan weiter.

 

Nach weiteren intensiven Gesprächen lenkte Ansorullah Tadschikistan schliesslich ein, nur auf einer Vorbedingung für Verhandlungen zu beharren: dass jegliches russische Militärpersonal aus Tadschikistan abziehen müsse.

 

Ein Diplomat eines Landes der Region bestätigte gegenüber SIGA die Existenz laufender Taliban-Bemühungen, Gespräche zwischen der tadschikischen Regierung und Ansorullah Tadschikistan zu vermitteln, wobei er explizit erwähnte, dass Ansorullah in der Tat auf den Abzug aller russischen Soldaten aus Tadschikistan als Vorbedingung bestehe. Bezüglich Letzterem fügte der Diplomat an, dass eine solche Bedingung «unmöglich zu erfüllen» sei und Ansorullah und die Taliban etwas anderes anbieten müssten.

 

Ähnlich bestätigte auch eine Quelle mit Zugang zu Ansorullah-Mitgliedern SIGA, dass Bemühungen zum Aufgleisen von Gesprächen zwischen Ansorullah und der tadschikischen Regierung besprochen worden seien.

 

Aufgrund dieser Bestätigungen von verschiedenen Seiten gibt es praktisch keinen Zweifel, dass Bemühungen zur Vermittlung von Friedensverhandlungen in der Tat im Gange sind, solche jedoch bisher keine signifikanten Durchbrüche erzielt haben.

 

Und Chancen, dass sich dies ändern wird, stehen alles andere als gut.

Mehr als unsichere Aussichten

Während die Taliban in nicht öffentlichen Gesprächen Bemühungen zu Friedensverhandlungen als einzigen Weg darstellen, um das Problem der Existenz von dschihadistischen Gruppen wie Ansorullah in Afghanistan zu lösen, wirft eine genauere Untersuchung der Sachlage und der Umstände von solchen Bemühungen Fragen über deren Durchführbarkeit und Ernsthaftigkeit auf.

 

So erklärte eine Quelle mit Zugang zu Ansorullah-Tadschikistan-Mitgliedern SIGA beispielsweise, dass Letztere jegliche Vorstellung einer Versöhnung mit der tadschikischen Regierung wiederholt und konsequent abgelehnt haben und dies weiterhin tun. Einmal hätte ein Mitglied der Führungsriege von Ansorullah Gespräche über den Beginn von Verhandlungen mit der tadschikischen Regierung gar ausdrücklich als blosse «politischen Spielereien» beschrieben.

Standbild eines Propaganda-Videos, das den russischen Präsidenten Wladimir Putin und den tadschikischen Präsidenten Emomali Rahmon zeigt und welches am 30. Dezember 2023 auf einem Ansorullah nahestehenden Kanal auf einer Messaging App geteilt wurde. Der Titel heisst übersetzt «Wie kann Tadschikistan von Besatzung und Korruption befreit werden?» Das Video verunglimpft die tadschikische Regierung und spricht von einer angeblichen «goldenen Gelegenheit», die derzeitige tadschikische Republik umzustürzen und mit einer islamischen Regierung zu ersetzen.

Und allermindestens einige afghanische Taliban wissen über dies Bescheid. So räumte ein Talib, der über die obigen Vorgänge unterrichtet ist, in einer privaten Unterhaltung ein, dass Versuche zur Versöhnung nicht ernsthaft seien und Ansorullah sich immer noch auf einen Krieg vorbereite. Er verglich dies explizit mit ähnlichen Bemühungen der afghanischen Taliban, die pakistanische Dschihadisten-Gruppe Tehrik-e Taliban Pakistan (TTP) mit der pakistanischen Regierung auszusöhnen, welche schnell zusammenbrachen und von erhöhten Angriffen der TTP in Pakistan gefolgt wurden (siehe z.B. hier, hier und hier). Der genannte Talib beschrieb das Anbieten von Friedensverhandlungen mit simultanen Vorbereitungen auf einen Krieg zur gewaltsamen Erreichung gesteckter Ziele einmal gar als eine bewährte «Technik». Dies war offenbar ein Hinweise auf den Ansatz, den die afghanischen Taliban selber verfolgt hatten, als sie mit den Vereinigten Staaten von Amerika und später der damaligen afghanischen Republik verhandelt hatten, nur um dann Operationen zu intensivieren und Afghanistan im August 2021 schliesslich militärisch zu übernehmen.

 

Sowohl dieser Talib als auch andere Quellen gaben SIGA gegenüber unabhängig voneinander ebenfalls an, dass afghanischen Taliban Ansorullah-Mitgliedern nicht nur gestatten, sich in Afghanistan frei zu bewegen und zu trainieren, sondern diese gar finanziell und materiell unterstützen.

 

Um fair zu sein muss erwähnt werden, dass Zweifel betreffend der Chancen auf den Erfolg von angestrebten Friedensverhandlungen nicht nur von der dschihadistischen Seite verursacht werden. Während die genaue diesbezügliche Position der tadschikischen Regierung nicht geklärt werden konnte, weisen verfügbare Informationen darauf hin, dass die tadschikische Regierung nicht bereit ist, signifikante Konzession zu machen und scheinbar nur eine volle Kapitulation von Ansorullah Tadschikistan akzeptieren würde.

 

Angesichts der fehlenden Ernsthaftigkeit aller involvierten Seiten sind Chancen, dass Friedensverhandlungen beginnen werden, geschweige denn, dass diese Resultate erzielen, daher mehr als klein.

 

Dementsprechend ist das wahrscheinlichste Szenario, dass Ansorullah Tadschikistan in Afghanistan bleiben und weiter versuchen wird, Dschihad gegen die tadschikische Regierung zu führen. Eine Reihe von Gründen, unter anderem der Umstand, dass Ansorullah maximal sehr beschränkt Rückhalt in der tadschikischen Bevölkerung hat und dass der Fluss Pandsch eine natürliche Barriere darstellt, die besser kontrolliert werden kann als beispielsweise die umstrittene Landgrenze zwischen Afghanistan und Pakistan, machen es jedoch unwahrscheinlich, dass Ansorullah die TTP nachahmen können wird und zahlreiche Angriffe in Tadschikistan lancieren kann. Es muss jedoch damit gerechnet werden, dass Ansorullah — ungeachtet von Instruktionen der afghanischen Taliban, dass Ansorullah sich ruhig verhalten solle — weiterhin versuchen wird, Tadschikistan zu attackieren. Und dass die Gruppe irgendwann erfolgreicher sein könnten als in den oben genannten beiden fehlgeschlagen Versuchen in 2023.

 

Da Ansorullah nicht die einzige Gruppe ausländischer Dschihadisten in Afghanistan ist und sich die Lage mit anderen solcher Gruppen, inklusive al-Qaida, ähnlich präsentiert (siehe z.B. hier), wird Dschihadismus geopolitisch trotz der Transition weg vom Krieg gegen der Terror zum Konkurrieren von Grossmächten weiterhin relevant bleiben.

Franz J. Marty

Bemerkung: die Beschreibung von Quellen und zahlreicher Details wurde absichtlich vage belassen um den Schutz von Quellen zu gewährleisten.


[1] Tadschikistan beherbergt die 201. Militär Basis der Russischen Landstreitkräfte, welche — mit Ausnahme von russischen Militärbasen in von Russland kontrollierten Teilen der Ukraine — der grösste Landstützpunkt des russischen Militärs ausserhalb von Russland ist. Für mehr Informationen zur 201. russischen Militär Basis, siehe z.B. https://www.globalsecurity.org/military/world/russia/ogrv-tajikistan.htm und https://fmso.tradoc.army.mil/2023/russia-strengthens-its-military-presence-in-central-asia/.

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