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Südkaukasus: Zwischen alten Konflikten und ungewisser Zukunft

April 2024

Der Südkaukasus, eine kleine Region zwischen Schwarzem und Kaspischen Meer, zwischen Europa, Russland, Zentralasien, und dem Mittleren Osten, wird nach wie vor von auf die Sowjet-Ära zurückgehenden Konflikten heimgesucht, steht jedoch ebenfalls vor neuen Perspektiven, sich vermehrt nach Europa auszurichten.


Die russische Grossinvasion der Ukraine im Februar 2022 sowie sich davor und danach ereignete regionale Entwicklungen haben die Lage im Südkaukasus, der Armenien, Aserbaidschan, Georgien, und die zwei von Georgien abtrünnigen Gebiete Südossetien und Abchasien umfasst, beträchtlich verändert. Während sich diese Länder an die neue geopolitische Realität anzupassen versuchen, kämpfen sie weiterhin mit historischen Konflikten über Grenzen und Territorialansprüche.

Armenien

Armenien ist in einer schwierigen Lage. Im Herbst 2020 verlor das Land den zweiten Nagorno-Karabach-Krieg gegen Aserbaidschan, in welchem Aserbaidschan von Armenien besetze Gebiete Aserbaidschans sowie Teile von Nagorno-Karabach eroberte. All diese Gebiete waren seit dem von 1988 bis 1994 dauernden ersten Nagorno-Karabach-Krieg heftig umstritten, wobei der Hauptgrund die Frage des Status von Nagorno-Karabach war, einem Territorium, das zur Sowjetrepublik Aserbaidschan gehörte, jedoch hauptsächlich von ethnischen Armeniern bewohnt war, die nach Ende der Sowjetunion Nagorno-Karabach als nicht anerkannte Republik Arzach ausriefen.

Armenisch-aserbaidschanische Gespräche zur Normalisierung der Beziehungen nach dem zweiten Nagorno-Karabach-Krieg sowie Armeniens Bereitschaft, Ansprüche auf Nagorno-Karabach unter gewissen Umständen aufzugeben, blieben ohne Resultate und wurden am 19. und 20. September 2023 von Aserbaidschans einseitiger Blitzkriegeroberung von Nagorno-Karabach überholt. Letzteres führte zum Exodus von praktisch allen der über 100’000 ethnischen Armenierinnen und Armeniern, die Nagorno-Karabach bewohnt hatten, wobei sich die meisten seitdem in Armenien niedergelassen haben.

Bemühungen für einen Friedensvertrag zwischen Armenien und Aserbaidschan ziehen sich seit Ende 2023 hin. Gründe dafür sind u.a. Differenzen, wie die nach wie vor umstrittenen armenisch-aserbaidschanische Grenze zu demarkieren sei, was trotzt einer kürzlich erreichten teilweisen Vereinbarung höchst kontrovers bleibt, sowie Befürchtungen Armeniens, dass Aserbaidschan Ansprüche auf weiteres armenisches Territorium erheben könnte. Dies betrifft namentlich Teile der südarmenische Provinz Syunik, ein Gebiet, das von Aserbaidschan West-Sangesur genannt wird, und durch welches Aserbaidschan sein Hauptland mit seiner Exklave Nachtschivan verbinden will.

Der Nagorno-Karabach Konflikt hallt jedoch auch über die Region hinaus nach. Armenien, welches sich in der Vergangenheit auf sein Bündnis mit Russland verlassen hatte, hat sich immer mehr von Russland abgewandt. Auslöser dafür war, dass Russland Armenien in den letzten bewaffneten Auseinandersetzungen nicht unterstützt hatte, obwohl Armenien Teil eines von Russland dominierten Verteidigungsbündnisses, der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (russisches Kürzel ODKB), ist und russische Friedenstruppen, die in Nagorno-Karabach stationiert waren, nicht intervenierten, als Aserbaidschan im September 2023 seine Blitzübernahme von Nagorno-Karabach lancierte. Aus russischer Sicht wurde dies damit begründet, dass Nagorno-Karabach völkerrechtlich Teil von Aserbaidschan ist, was selbst von Armenien prinzipiell anerkannt worden sei, und deshalb weder ODKB-Garantien griffen, da diese eine Attacke auf Armenien voraussetzen würden, noch Friedenstruppen ein Mandat gehabt hätten, im September 2023 gegen aserbaidschanische Truppen vorzugehen. Wie dem auch sei erklärte der armenische Premierminister Nikol Paschinjan im Februar 2024, dass Armenien seine Beteiligung in der ODKB «eingefroren» habe und Armenien hat Russland später offiziell aufgefordert, bis zum 1. August 2024 russische Grenzwächter vom Flughafen der armenischen Hauptstadt Yerevan abzuziehen. Diese russischen Truppen sind, wie russische Soldaten in anderen Basen in Armenien, seit dem Zerfall der Sowjetunion aufgrund eines Abkommens mit Armenien zwecks Unterstützung der Grenzsicherheit Armeniens in Armenien verblieben.

 

Armeniens Versuche, Russland als Sicherheitsgarant zu ersetzen, sind jedoch nicht einfach. Jüngste Aussagen von armenischen Politikern, sich in die EU integrieren zu wollen, sind ungewiss und würden selbst im besten Fall wohl mehrere Jahre beanspruchen. In der Zwischenzeit hofft Armenien, dass eine seit Anfang 2023 bestehende kleine zivile EU-Beobachtermission an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze zumindest etwas Sicherheit verspricht, wappnet sich aber auch mit Waffenkäufen aus Frankreich und Indien für eine ungewisse Zukunft.

Aserbaidschan

Diese Rüstungspläne werden in Aserbaidschan mit Argwohn betrachtet, zumal Aserbaidschan den ersten Nagorno-Karabach-Krieg nicht vergessen hat, in dem Armenien siegreich war und es zu Gräueltaten und Vertreibungen gegen Aserbaidschaner gekommen war. An der derzeitigen militärischen Überlegenheit Aserbaidschans, die u.a. auf Waffenkäufe aus der Türkei und Israel zurückzuführen ist, werden diese aber mindestens mittelfristig kaum etwas zu ändern vermögen.

Die Türkei ist aufgrund sprachlicher und kultureller Nähe seit jeher Aserbaidschans traditioneller Partner. Mit Israel pflegt Aserbaidschan sodann seit Jahren Beziehungen. Während die Iran-kritische Haltung beider Länder dabei eine Rolle spielt, sind andere Aspekte wie Israels Käufe von aserbaidschanischem Öl und Gas ebenso wichtig.

Iran steht im Südkaukasus traditionell auf der Seite des christlichen Armeniens und hat mit Aserbaidschan, obwohl Iraner und Aserbaidschaner grossmehrheitlich Schiiten sind, eine schwierige Beziehung. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass Iran gewisse Aussagen von aserbaidschanischen Regierungsvertretern über ethnisch aserische Iraner und von diesen bewohnte Gebiete Irans als potentiellen Aufruf zu Separatismus sieht, während die säkulare Regierung Aserbaidschans das islamisch iranische Regime verdächtig, via schiitische Geistliche in Aserbaidschan unerwünschten Einfluss auszuüben. Diese Beziehung scheint aber u.a. mit dem Ende 2023 gestarteten Baubeginn eines Transportkorridors zwischen dem Hauptland von Aserbaidschan und Nachtschivan via iranisches Territorium aufzutauen.

Ob die Abwendung Armeniens von Russland eine aserbaidschanisch-russischen Annäherung nach sich ziehen könnte, ist schwierig zu beurteilen. Mitte April 2024 hat Russland seine Friedenstruppen aus Nagorno-Karabach abgezogen, da deren Zweck mit der aserbaidschanischen Eroberung von Nagorno-Karabach im September 2023 sowie dem darauf folgenden Exodus der armenischen Bevölkerung Nagorno-Karabachs praktisch weggefallen war. Dies ist von Bedeutung, da ein aserbaidschanischer Beobachter bereits vor Bekanntwerden dieses Abzuges erklärt hatte, dass Aserbaidschan keine russischen Truppen und Einfluss im Land haben wolle und daran erinnert, dass Aserbaidschan eines der ersten Länder der Sowjetunion gewesen sei, das russische Truppen nach dem Zerfall der Sowjetunion aufgefordert hatte, nach Russland zurückzukehren. Dies gesagt kann eine gewisse aserbaidschanisch-russische Annäherung nichtsdestotrotz nicht ausgeschlossen werden, zumal ein definitiver Austritt von Aserbaidschans Erzfeind Armenien aus der ODKB erneut zu Berichten über einen potentiellen ODKB-Beitritt Aserbaidschans führen könnte.

Dass der Hafen in Aserbaidschans Hauptstadt Baku ein Schlüsselpunkt des sogenannten Mittelkorridors ist, eines Handelskorridors der China unter Umgehung von Russland via Zentralasien und Kaspisches Meer mit dem Südkaukasus und Europa verbinden soll, eröffnet jedoch auch Perspektiven für eine verstärkte Anbindung an Europa. Dies gilt umso mehr, als dass europäische Länder seit Februar 2022 vermehrt Interesse an aserbaidschanischem Gas haben, um zuvor von Russland bezogene Brennstoffe zu ersetzen.

Ob die autoritäre Natur der aserbaidschanischen Regierung ein Stolperstein für eine verstärkte Beziehung Aserbaidschans zu Europa darstellt, bleibt abzuwarten. Zwar haben jüngste Verhaftungen von Journalisten und Oppositionellen in Aserbaidschan für Aufsehen gesorgt, zu solchen kam es jedoch auch in der Vergangenheit, ohne dass dies internationale Beziehungen auf den Kopf gestellt hätte.

 

Daher und da die einseitige gewaltsame Übernahme von Nagorno-Karabach zu keinen handfesten negativen Konsequenzen für die aserbaidschanische Regierung geführt hatte, sieht sich Letztere in einer Position der Stärke und wird ihren Kurs kaum ändern.

georgien

Die Gewährung des EU-Kandidatenstatus für Georgien am 14. Dezember 2023 war ein Meilenstein für das Land, dessen Hauptziel seit Jahren eine Integration in die EU und NATO ist. Dass Georgien nun ein EU-Kandidat ist, hat in der neuen geopolitischen Situation seit Russlands Grossinvasion der Ukraine scheinbar mehr mit europäischen Befürchtungen zu tun, dass Georgien erneut in die russische Einflusssphäre rutschen könnte, als mit georgischen Fortschritten. Von zwölf Bedingungen, die die EU Georgien im Juni 2022 für den Erhalt des Kandidatenstatus stellte, hat Georgien bisher nur drei vollständig erfüllt. Dementsprechend ist unklar, ob und wann Georgien ein EU-Mitglied werden wird oder, wie die Türkei und Serbien, ein «ewiger» Kandidat bleiben könnte.

Dies gilt umso mehr, als dass die georgische Regierung diesen Frühling mehrere kontroverse Gesetzesvorlagen vorgebracht hat, wobei die umstrittenste eine Vorlage über «Transparenz von ausländischem Einfluss» ist, welche vorsieht, dass Organisationen und Medien in Georgien, die mindestens 20% ihrer Einnahmen aus dem Ausland erhalten, unter einen Registrierungs- und Offenlegungszwang fallen sollen. Die Regierung hatte bereits im Frühjahr 2023 eine praktisch identische Vorlage lanciert, diese dann aber wegen Demonstrationen zurückgezogen. Damals wie heute wird diese Gesetzesvorlage von Kritikern als Kopie eines russischen Gesetzes, das zur Unterdrückung von unabhängigen Organisationen in Russland geführt habe, und teils gar als Sabotage von Georgiens geplanter EU-Integration durch die angeblich pro-russische Regierungspartei betrachtet. Die seit 2012 an der Macht befindliche georgische Regierungspartei weist solche Vorwürfe zurück und insistiert, dass die Gesetzesvorlage zum Schutz von Georgiens Souveränität notwendig und diese einem alten U.S. Gesetz und Plänen für eine ähnliche EU-Direktive nachempfunden sei. Betreffend Letzterem ist anzumerken, dass diverse europäische Beamte klar zum Ausdruck gebracht haben, dass sie die fragliche georgische Gesetzesvorlage als von europäischen Ansätzen abweichend und in Konflikt mit europäischen Werten ansehen sowie dass diese Georgiens Weg zur EU kompromittieren könnte. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichtes, war unklar, wie diese Situation, die aufgrund seit 15. April 2024 in Georgien anhaltenden Demonstrationen gegen die kontroverse Gesetzesvorlage Eskalationspotential birgt, ausgehen wird.

Im Gegensatz dazu versprechen wirtschaftliche Projekte wie zum Beispiel der genannte Mittelkorridor oder ein Unterwasserkabel durch das Schwarze Meer zwecks Elektrizitätslieferungen vom Kaukasus nach Osteuropa, unumstrittenere Chancen auf Anbindung an Europa. Da die Erfahrung mit Grossprojekten zeigt, dass sich solche oft verschleppen oder nicht annähernd im versprochenen Ausmass umgesetzt werden, sollten solche Pläne jedoch mit gewisser Nüchternheit betrachtet werden.

Dies gesagt bestehen indirekt aber auch in wirtschaftlicher Hinsicht Streitpunkte. Namentlich führt die Entscheidung der georgischen Regierung, keine bilateralen wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland zu verhängen und sich nur darauf zu beschränken, die Umgehung von westlichen Sanktionen gegen Russland durch Georgien zu verhindern, wiederholt zu Kontroversen. Die georgische Regierung weist auch hier Vorwürfe von einer pro-russischen Haltung zurück und gibt an, keine bilaterale Sanktionen zu verhängen, da solche die georgische Wirtschaft härter als die russische treffen würden.

 

Sicherheitspolitisch erklärt die georgische Regierung sodann, das Wiederaufflammen der Konflikte um Südossetien und Abchasien verhindern zu wollen, zwei Regionen, die Georgien als eigenes Staatsgebiet ansieht, die sich nach Zerfall der Sowjetunion jedoch de facto von Georgien abgespaltet haben. Seitdem kam es in und um diese Regionen zu diversen Feindseligkeiten, die im August 2008 in einem 5-Tage-Krieg zwischen diesen Regionen und Russland auf der einen sowie Georgien auf der anderen Seite ihre letzte grössere Eskalation fanden.

Südossetien und abchasien

Die Republiken von Südossetien und Abchasien, die nur von fünf Ländern anerkannt werden, werden meistens als komplett von Russland besetzte und kontrollierte Gebiete dargestellt. Während die beiden Territorien wirtschaftlich und sicherheitspolitisch von Russland abhängen (bezüglich Letzterem ist anzumerken, dass russische Sicherheitskräfte Basen in beiden Gebieten haben) sowie durch diverse Abkommen auch rechtlich stark an Russland gebunden sind, ist eine solche Ansicht jedoch verkürzt.

Dies zeigt sich u.a. dadurch, dass sowohl in Südossetien als auch in Abchasien mehrere politische Parteien und andere Gruppierungen aktiv sind und teilweise interne Streitigkeiten sowie Differenzen mit Russland bestehen. Jüngere von zahlreichen Beispielen sind ein im Herbst 2023 ausgebrochener Zollstreit zwischen Südossetien und Russland sowie dass die abchasische Regierung im Februar 2024 von der Unterzeichnung eines Kooperationsabkommens mit der russischen Nationalgarde zurückkrebste, nachdem Berichte über dieses Abkommen zu negativen Reaktionen der abchasischen Bevölkerung geführt hatten.

Einige Abchasen und Südosseten befürchten gar, dass die jüngsten geopolitischen Veränderungen, die angebliche Annäherung der georgischen Regierung und Russland, sowie Russlands Hinnehmen der aserbaidschanischen Übernahme von Nagorno-Karabach dazu führen könnte, dass Russland die beiden Gebiete irgendwann in einem Kuhhandel gegen georgische Konzessionen an Georgien verraten könnte.

Während ein solches Szenario derzeit höchst unwahrscheinlich bleibt, erklärte ein südossetischer Beobachter, dass es für Südossetien in der Tat von grösster Bedeutung sei, nicht in «politische Fallen» der Beziehungen zwischen Russland und Georgien zu tappen. «Daher muss Südossetien pragmatisch bleiben, um sein Territorium und Volk zu schützen,» erklärte der Beobachter weiter, wobei er anfügte, dass Südossetien aufgrund der derzeitigen «westlichen Haltung und Ignoranz» bezüglich Südossetien und angeblicher aggressiver georgischen Positionen, ausser einer Kooperation mit Russland kaum Spielraum hätte. Abchasische Nationalisten sehen dies ähnlich.

 

Dementsprechend werden diese eingefrorenen Konflikte in voraussehbarer Zukunft kaum gelöst werden und der Südkaukasus somit weiterhin zwischen Echos einer schwierigen Vergangenheit und einer ungewissen Zukunft gefangen bleiben.

Franz J. Marty