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Indien – Elektorale Autokratie

In den nächsten Monaten wird in der formal grössten Demokratie der Welt gewählt. Für den Westen ist Indien Hoffnungsträger für Rechtsstaatlichkeit und liberale Ordnungsprinzipien. Damit wird Indien auch als demokratisches Bollwerk gegenüber autoritären Staaten wie Russland oder China verstanden. Diese Projektion hat unter der Regierung Narendra Modis aber ernstzunehmende Risse erhalten. 


Zwischen April und Juni 2024 wird Indien die historisch und weltweit grössten Wahlen abhalten. Knapp eine Milliarde Menschen werden in einem komplexen Wahlprozedere die 543 Sitze eines wichtigen Teils des indischen Parlaments [1] bestellen. Der amtierende Premierminister Narendra Modi wird unter der losen National Democratic Alliance, welche von der Bharatiya Janata Party (BJP) angeführt wird, vermutlich auch die nächsten fünf Jahre Indien regieren.

Der Wahlkampf der letzten Monate zeigte aber, dass freie und faire Wahlen in der grössten Demokratie vielleicht nicht so frei und nicht so fair wie gehofft sind: (1) Festnahmen von Oppositionsführern, (2) Einfrierung von Bankkonten der oppositionellen Kongresspartei und (3) das Bestechen von BJP-Politikern und Staatsinstitutionen durch die Wirtschaft. Zudem wurden (4) menschrechtsverletzende Programme und Rechtsprechungen gegen Minderheiten, Oppositionelle und Nichtregierungsorganisationen systematisch ausgeführt. Das sind nicht Vorzeichen für demokratische Wahlen. Nach Analysen des V-Dem Institut der Universität Göteborg, welches die Qualität von Regierungen erforscht, wird Indien zunehmend als elektorale Autokratie taxiert: regelmässig stattfinde Wahlen finden nach wie vor statt, aber die Regierung wird zunehmend autoritär, so eine mögliche Umschreibung. Diese antidemokratischen Entwicklungen haben mit der Regierungspolitik Modis zu tun.

Modis Politik

Modi hat die letzten zehn Jahre mit einer klaren Agenda geführt. Mit dieser wurde ein pluralistisches und säkulares Indien in seinen Identitäten herausgefordert. 1. Der Hindu-Nationalismus als zivilisatorische und identitätsstiftende Grösse wird politisch strategisch verfolgt und zum narrativen Mainstream geformt (vgl. Citizenship Law (2019, Implementation 2024), Aushebung des Verfassungsartikel 370 (2019) sowie etliche bundesstaatliche Gesetze, die vor allem Musliminnen und Muslime diskriminieren (Uttrakhand Freedom of Religion Act 2018 oder Muslim Women (Protection of Rights on Divorce) Act 2019)). 2. Die Industrielenker werden mit ultra-liberalen Wirtschaftsrechten befriedigt, um möglichen disruptive noises vorzubeugen (Quinn Slobodian, vgl. Abbau von Subventionen in der Agrarwirtschaft, Vereinfachung von ausländischen Direktinvestitionsmechanismen, Vereinfachung der Güter- und Dienstleistungssteuern oder Reduktion der Unternehmenssteuern). Und 3. sind diese Aspekte wiederum Grundlage, um Indien als internationale Macht geopolitisch zu positionieren. In dieser politischen Agenda gibt es fast für alle in Indien was zu «holen», nicht aber für die Minderheiten (vgl. vor allem Muslime aber auch Christen, Juden, Parsis, Sikhs oder auch indigene Völker). Dies hat dazu geführt, dass ein Politsystem aufgebaut wurde, dass tendenziell auf Kontrolle und Repression setzt.

Geopolitische Bedeutung

Diese eiserne Hand ist geopolitisch nicht ganz unbedeutend. Zeichen der Stärke und des Willens wird von aufstrebenden Staaten mit der Rückbindung auf zivilisatorische Legimitation narrativ aufgebaut (vgl. Zivilisationsstaat, so auch in Russland, Türkei oder China) und als Alternative gegen eine westliche Nationalstaaten-Doktrin verstanden. Damit schafft Neu-Delhi Optionen, um sich international als unabhängige Stärke aufzubauen. Damit werden demokratische Prinzipien gerne gestreckt, um die eigenen strategischen Positionen international auszuloten. Der Westen mit seinem Wertesystem ist vielleicht nicht mehr der Garant für Stabilität und Sicherheit, auf welches Indien die letzten Jahrzehnte gesetzt hatte. Indien wird zunehmend seine demokratischen Prinzipien neu verhandeln müssen, wenn es geopolitisch eine stärkere Position spielen will: «A nationalist outlook will naturally produce a nationalist diplomacy, and it is something that the world will need to get used to», so der indische Aussenminister Subramanyam Jaishankar. Diese nationalistische Stärke wird gebraucht, wenn sich Indien zwischen den Polen USA und China positionieren will, sich aber auch innerhalb der Gipfel- und Ökosystemdiplomatie der BRICSplus-Staaten behaupten will. Ein Ausloten in alle Richtungen mit der Tendenz, sich unter dem Narrativ des Globalen Südens vermehrt mit den BRICSplus-Staaten zu vernetzen, wird die nächsten Jahre prägen. Ein Vorgeschmack bietet die verstärkte Zusammenarbeit mit Russland und Iran im Bereich Infrastrukturen und Energie (vgl. Rüstungszusammenarbeit mit Russland, Oil-washing und Profit aus der veränderten Öl- und Gas-Kette infolge Ukraine-Krieg und International North-South Transport Corridor (INSTC)).

Ausblick Indiens Demokratieverständnis

Indien als Partner des Westens für Demokratie und Rechtstaatlichkeit zu verstehen und darin auch als Bollwerk gegen autoritäre Staaten zu lesen wird zunehmend schwierig und unberechenbar. Indien hat sich unter Modi stark, aber auch mehrdeutig verändert. Die politische Agenda ist gesetzt und Modi wird mit seinem Sieg diese Agenda vertiefen wollen. Indien als Gegenpol zu China zu lesen greift dabei zu kurz. Nichtsdestotrotz gilt für Indien das Bonmot der britischen Ökonomin Joan Robinson: «Whatever you can rightly say about India, the opposite is also true».   

Dr. Remo Reginold


[1] Gewählt wird diejenige der zwei Parlamentskammern, die als Volksvertretung bezeichnet werden kann (Lok Sabha) im Gegensatz zur zweiten Parlamentskammer als Vertreter der Teilstaaten Indiens (Rajya Sabha), die zwar ebenfalls teilweise neu besetzt werden, aber grösstenteils von den Parlamenten der Bundesstaaten bestimmt werden. Die Lok Sabha ist jedoch die dominante Parlamentskammer.  

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