· 

Indiens Pragmatismus - Modis Besuch in der Ukraine

Narendra Modi ist der erste indische Premierminister, der die Ukraine besucht. Das ist nicht nur historisch, sondern im Westen wittert man Morgenluft für eine Kehrtwende in der Aussenpolitik Neu-Delhis. Die Lage ist aber vertrackter.


Am Freitag, den 23. August 2024 reiste der indische Premierminister Narendra Modi nach Kiew, um den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenski zu besuchen. Mit diesem Besuch wird im Westen die Hoffnung geschnürt, dass die grösste Demokratie der Welt sich wieder mehr dem westlichen Lager zuwendet, Werte der Rechtsstaatlichkeit und des internationalen Rechts stärkt und damit sich gegen den Aggressor Russland positioniert.


Diese Einschätzung hat mit Wunschdenken und mit westlichen Projektionen zu tun. Realität ist vielmehr, dass Indien seit Jahren sein weltpolitisches Potential auslotet und sich entsprechend verhält und positioniert. Indien betreibt klassische Situationspolitik, die auf Opportunitäten und unterschiedliche Handlungsoptionen setzt. In der Diplomatie gerne als Swing-Staat bezeichnet, schaffen solche Staaten durch vorteilhafte Situationen, wie Lieferkettenknotenpunkte, geographische Position, Zugang zu Rohstoffen oder Allianzökosysteme Bedingungen und Konditionen, die sie kontextabhängig, realpolitisch und subtil als Druckmittel und Verhandlungsmasse einsetzen können. Bekannt dafür, dass Neu-Delhi mit Moskau historisch gute Beziehungen unterhält und wirtschaftliche Schlupflöcher gegenüber westlichen Sanktionen ermöglicht, ist Indien auch ein Verbündeter des Westens gegen das aufstrebende China. Peking wiederum hat die Beziehungen seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine mit Russland ebenfalls verstärkt. 

Unter diesen Vorzeichen muss man Modis Besuch in der Ukraine verstehen. Modi betreibt Situationspolitik, um die eigenen Optionen in diesem festgefahrenen Konflikt in der Ukraine aber auch international auszuloten. Es geht um ökonomischen Austausch aber auch um Kooperationsoptionen im Finanz- und Technologiesektor mit der Ukraine (inkl. Rüstung). Es geht aber auch um ein Zeichen, dass Indien auch für Frieden, Dialog und Kooperation steht; genau wie der Westen. Dass Indien dabei als Verhandler für Friedensgespräche fungieren könnte, wie es in der internationalen Presse gerne präsentiert wird, ist vermutlich eine weitere westliche Projektion. In dieser Gemengelage spricht man nicht nur von Situationspolitik, sondern auch von Konstellationsdesigns. In dieser übt sich Indien, ohne konkret zu werden und sich damit Handlungsfreiheit für die Zukunft zu verbauen.

Wenn sich Indien mit Russland, ihrem Erzrivalen China aber auch mit Brasilien und Südafrika in der BRICS Gruppe wiederfindet, dann ist das diplomatisches Konstellationsdesign, wo die Staaten sich nach Thema und Herausforderung finden und gemeinsam positionieren. Dabei geht es weniger um wertebasierte Allianzsysteme und bisherige Prinzipien der internationalen Ordnungspolitik, sondern um pragmatische Situationspolitik. Ähnlich kann man Indiens Mitgliedschaft in der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) lesen.

Wenn Modi bei Selenski aufmarschiert, hat dies mehr mit Symbol- und Wirtschaftspolitik zu tun als mit einem klaren Commitment, Teil des westlichen politischen Narrativs zu sein. Die freundlichen Doppel-Umarmung Modis mit Selenski im August und mit Putin im Juli spricht Bände. Es gibt keine Eindeutigkeiten, auch wenn man sich dies in einer vertrackten weltpolitischen Gemengelage wünscht. 

 

Dr. Remo Reginold

Kommentar schreiben

Kommentare: 0