Meinungsbeitrag von Dr. Urs Vögeli
Russische Kampfjets über NATO-Ländern, Drohnenüberflüge und Störungen bei Flughäfen und Militäreinrichtungen. Und seit dreieinhalb Jahren redet der politische Westen von Krieg in Europa. Die Menschen und die Politik müssten doch bei dieser offensichtlichen hybriden Kriegsführung aber auch konventionellen Bedrohung mit Panzern und Artillerie inzwischen erkannt haben, dass die Zeitenwende eingetreten ist und massive Bestrebungen in Gang gesetzt werden müssten, um Militär und Verteidigung wieder aufzubauen, so ein gängiges Narrativ.
Gleichzeitig müssen wir gerade auch in der Schweiz zur Kenntnis nehmen, dass Landesverteidigung nach wie vor keinen grossen Stellenwert geniesst, auch wenn etwas mehr als noch vor fünf Jahren. Ein aktueller Sorgenbarometer zeigt, dass der Schweizer Bevölkerung ganz andere Themen unter den Nägel brennen. Sicherheit und Landesverteidigung gehören offenbar weniger dazu. (Wahlbarometer SRG: Wenig Interesse an Landesverteidigung, SRF). Parallel dazu sind auch unsere demokratischen Rechtsstaaten überfordert mit unkonventioneller Kriegsführung. So schafft es Finnland nicht, ein Urteil zu fällen beim Sabotage-Verdacht in der Ostsee. (Finnland: Kein Urteil zu Sabotage-Verdacht in der Ostsee, SDA). Dies obwohl in Medien und Politik der Fall sehr klar zu sein schien. Neue Fragen kommen auf, wenn die äussere Bedrohung subtil und unterschwellig auf die innere Sicherheit trifft. Gesamtkonzeptionen fehlen. Die Dissonanz nimmt zu.
Da hat es offenbar nichts genützt, mit alter Rhetorik die letzten Jahre die Bedrohung und folgerichtige Lösungen Land auf Land ab zu predigen. Auch die grossen Investitionen in Social Media-Aktivitäten gehen offenbar ins Leere, wenn nicht mehr Junge Interesse an Militär zeigen, geschweigen einrücken und weitermachen wollen. Es scheint mir eher so zu sein, dass sich ein Graben zwischen sicherheitspolitischen Akteuren, die sich professionell und politisch mit der Materie auskennen und befassen, und der Bevölkerung auftut. Dies hat einerseits sicher mit der geopolitischen Sorglosigkeit in unseren Gesellschaften zu tun. Wir haben unseren Wohlstand, den wir verwalten müssen. Wir haben trotz allem noch Sicherheit. Die Ukraine ist weit weg, die Ostsee ebenfalls, geschweige denn das Südchinesische Meer. Es ist nichts im Alltag spürbar. Wir erleben die Schrecken nicht und sind vielleicht eher medial abgestumpft.
Ausserdem könnte es auch sein, dass eine zu krasse Rhetorik abschreckt und die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen schwächt. Szenarien, dass wenn die Ukraine fällt, und auch Ungarn und Österreich sich nicht wehren, die Schweiz direkt bedroht sein könnte, wirken auf den Laien eher gesucht. Auch die ständige Anrufung von Solidarität und Einheit verpufft irgendwann. Sie zielen einerseits einfach an der Realität vorbei. Andererseits könnte Vielfalt gerade eine Stärke von Europa sein. Es findet eine Übersättigung mit Appellen statt, die die Dringlichkeit und Notwendigkeit untergräbt. Überreaktionen sind dabei genauso schlimm, wie Untertreibungen und Wegschauen. Mediale Angstmacherei multipliziert genau die vom Gegner gewollte Unsicherheit und Instabilität.
Der Fall Südkorea 2024 ist dabei ein entsprechendes Beispiel. Ein Präsident ruft das Kriegsrecht aus, wegen der Bedrohung vor der Haustür und dem tobenden Informationskrieg. Politische Gegner werden als bereits unterwandert oder beeinflusst bezeichnet, was den radikalen Schritt rechtfertigen soll. Der Schuss ging nach hinten los. Die Übertreibung hat das Gegenteil bewirkt. Die politischen Gegner haben Kapital daraus geschlagen und in einer demokratischen Wahl hat sich nun ein neuer Präsident durchgesetzt, der den Ausgleich zwischen West und Ost sucht. Eine Abkehr von der einseitigen West-Ausrichtung ist eingetreten.
Die Lösung ist nicht einfach. Ich denke diese Dilemmas sind einerseits selbstverschuldet und werden andererseits bewusst ausgenutzt und geschürt. Folgende Punkte als Impuls und Anknüpfungspunkte könnten helfen:
- Aktion: Mehr Tun und Taten zeigen, dafür weniger Rhetorik und oberflächliche Narrative schüren
- Dialog: Mehr Innovation und Kreativität leben in der Art und Weise, wie Dialog geführt wird
- Einordnung: Mehr radikal interdisziplinäre Analyse und Methodik in der Interpretation und Auswertung von Ereignissen und Trends anwenden
- Leadership: Weniger mediale und politische Hypes produzieren, dafür mehr Besonnenheit und Ganzheitlichkeit vorleben
- Strategie: Weniger Kurzfristigkeit und Partikularität in den Vordergrund stellen, dafür mehr Weitblick und Langfristigkeit anstreben
Wenn wir den gesellschaftlichen Zerriss nicht vorantreiben und dennoch die Bedrohung und machtpolitischen Veränderungen auf der Welt ernst nehmen wollen, sind gesamtgesellschaftliche Anstrengungen von Nöten, die die Vielfalt als Stärke sehen, starre Strukturen aufbrechen, ganzheitliche und resiliente Infrastrukturen und Architekturen fördern, sowie Menschlichkeit und freiheitlich-demokratische Werte in den Vordergrund stellen. Wir dürfen nicht vergessen, dass die geostrategischen Herausforderungen massgeblich durch neue Technologien, Kultur und Normen, sowie Narrativität und Infrastrukturen geprägt sind. Das verlangt nach Antworten jenseits des Alltages, jenseits von Quartalszahlen und jenseits von Wahlzyklen.