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Was der kürzliche Taliban-Vormarsch in Afghanistan bedeutet — und was nicht

KABUL

In den vergangenen Wochen hat die ultrakonservative islamistische Taliban-Bewegung in einer Offensive dutzende Distrikte in ganz Afghanistan übernommen. Diese Offensive fand gleichzeitig mit dem immer noch anhaltenden Abzug aller U.S.-amerikanischen und alliierten Truppen vom Land am Hindukusch statt. Sie schürte ebenfalls Ängste, dass der schnelle Verlust all dieser Distrikte der Anfang des Endes des derzeitigen afghanischen Staates bedeuten könnte. Das Swiss Institute for Global Affairs (SIGA) hat die neusten Entwicklungen in Afghanistan genauer unter die Lupe genommen und zeigt, dass die Situation — obwohl sie sich ohne Zweifel besorgniserregend verschlechtert hat — nicht so apokalyptisch ist, wie oft dargestellt, und dass ein kompletter Zusammenbruch des Staates derzeit unwahrscheinlich bleibt.

Taliban in Khost, einem Distrikt in der nordafghanischen Provinz Baghlan, einem von weit über 100 Distrikten, die die Taliban seit 1. Mai 2021 übernommen haben (Standbild eines Videos, welches der Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid am 30. Juni 2021 auf Twitter teilte (https://twitter.com/Zabehulah_M33/status/1410158149126995971))

Übersicht des kürzlichen Taliban-Vormarsches

Im Nachhinein betrachtet begann alles in der Nacht vom 4. auf den 5. Mai, als Taliban-Kämpfer Burka, einen Distrikt in der nordafghanischen Provinz Baghlan, übernahmen. Dies schien damals nichts ausserordentliches zu sein; die Taliban hatten bereits in der Vergangenheit einige Distrikte übernommen. Dieses Mal — und im Gegensatz zu früher — folgten dem Fall von Burka jedoch der Fall von dutzenden anderen Distrikten im ganzen Land. Genauer gesagt gab Zabihullah Mujahid, der offizielle Sprecher der Taliban, SIGA am 3. Juli per WhatsApp an, dass die Taliban seit dem 1. Mai 143 der ungefähr 400 Distrikte Afghanistans[1] übernommen hätten. Dies erscheint exakt oder zumindest nicht weit von der Wahrheit zu sein — die afghanische Regierung hat kaum je den Fall von Distrikten bestritten und unabhängige Rechercheure des renommierten Afghanistan Analysts Network haben per 29. Juni den Fall von 127 Distrikten dokumentiert, wovon die Regierung nur 10 zurückerobert hatte; und seitdem hat die Regierung weitere Distrikte verloren. Am 7. Juli attackierten die Taliban gar kurz und erfolglos Qala-i Naw, den Provinzhauptort der nordwestlichen Provinz Badghis.

 

Obwohl die gefallenen Distrikte über ganz Afghanistan verteilt waren, wurde der Norden des Landes besonders hart getroffen. Dies ist bedeutsam, da die Taliban, bevor ihr Regime nach den Terroranschlägen des 11. Septembers 2001 von einer U.S.-geführten Intervention gestürzt worden war, im Norden dem stärksten Widerstand gegenüberstanden und es selbst am Höhepunkt ihrer Macht nie schafften, den äussersten Nordosten von Afghanistan unter ihre Kontrolle zu bringen. Dementsprechend scheint die Konzentration des derzeitigen Taliban-Vorstosses im Norden eine bewusste Stärkung der Taliban-Propaganda zu sein, dass Widerstand gegen sie angeblich zwecklos ist.

Karte des Afghanistan Analysts Network, die die Situation per 29. Juni 2021 zeigt (https://www.afghanistan-analysts.org/en/reports/war-and-peace/a-quarter-of-afghanistans-districts-fall-to-the-taleban-amid-calls-for-a-second-resistance/)

Bemerkung; seit 29. Juni 2021 sind weitere Distrikte an die Taliban gefallen, so insbesondere praktisch alle Distrikte der nordöstlichen Provinz Badakhshan und alle Distrikte in der nordwestlichen Provinz Badghis, wo die Taliban vorübergehend gar den Hauptort Qala-i Naw angriffen.

Die Übernahme von zahlreichen Distrikten durch die Taliban war offenbar auch so arrangiert, dass sie mit dem Abzug von U.S.-amerikanischen und alliierten Truppen aus Afghanistan zusammenfällt, wohl um die Taliban-Linie zu unterstreichen, dass die afghanische Regierung ohne U.S.-amerikanische und alliierte Truppen am Hindukusch schnell zusammenbrechen wird. Der U.S.-amerikanische und alliierte Abzug begann Ende April und soll, gemäss derzeitigen Informationen, Ende August abgeschlossen werden; die meisten Truppen haben Afghanistan jedoch bereits im Mai und Juni verlassen, wobei die verbleibenden offenbar hauptsächlich, wenn nicht ausschliesslich in der Hauptstadt Kabul konzentriert sind.

Diese Situation mit dem Fall von weit über 100 Distrikten an die Taliban ist ohne Frage äusserst bedenklich für die Regierung; eine genauere Betrachtung zeigt jedoch, dass diverse Aspekte zu relativieren sind.

Wieviel Territorium haben die Taliban übernommen und in welcher Art und Weise?

Während der ausgeführte Taliban-Vormarsch beispiellos ist, muss zuerst erwähnt werden, dass die afghanische Regierung in einer signifikanten Anzahl der Distrikte, die an die Taliban fielen, seit Langem eine nur prekäre Präsenz hatte. Der Spiegel berichtete korrekt, dass die Taliban es «vor allem auf ‘tief hängende Früchte’ abgezielt [hatten] – jene Bezirke, in denen sie bereits den Großteil der Dörfer kontrollierten und die Regierung nur noch das Bezirkszentrum mit wenigen Gebäuden hielt.» Dies wurde SIGA von weiteren Quellen bestätigt und auch vom Afghanistan Analysts Network erwähnt. Dementsprechend haben die Taliban nicht in einem Schlag über einen Drittel des Landes übernommen, sondern vielmehr ihre bereits vorher starke Position in weiten Arealen zementiert, in denen die Regierung seit Jahren bestenfalls beschränkt präsent war. Dies bedeutet nicht, dass es keine Ausnahmen gab, wie zum Beispiel der Fall von Rostaq, einem Distrikt in der nordostafghanischen Provinz Takhar, zeigt, der bisher von der anti-Taliban Partei Jamiat-i Islami dominiert war; weitere solche Beispiele sind sodann der Fall von Shughnan und Wakhan, zwei Distrikten in der nordöstlichen Provinz Badakhshan, die bisher keinerlei Talibanpräsenz hatten.

 

Des weiteren ist es wichtig anzumerken, dass die Taliban viele Distriktszentren ohne oder nur mit sehr beschränkten Gefechten übernommen haben. Ein Beispiel dafür war Warduj, ein Distrikt in der nordöstlichen Provinz Badakhshan, aus welchem sich Regierungstruppen am 2. Juli zurückzogen und der als Taliban-Hochburg bekannt ist. «Der Befehl für den Rückzug aus Warduj kam aus Kabul», sagte ein Soldat der afghanischen Territorialarmee, der bis zum Rückzug in Tschokaron, dem administrativen Zentrum von Warduj stationiert war, gegenüber SIGA am 3. Juli per Telefon. «Wir haben alle Fahrzeuge und Waffen mit uns genommen und haben den Distrikt ohne Kampf verlassen», erklärte der Mann weiter, wobei er hinzufügte, dass es in den Tagen vor dem Rückzug einige Gefechte gegeben hatte. Ein hochrangiger Polizeioffizier aus Warduj bekräftigte dies, gab jedoch an, dass «Kommandanten an der Front den Rückzug entschieden, da die Moral der Truppen wegen des Fallens von mehreren Distrikten tief gewesen sei.» Ein Einwohner eines Dorfes nahe Tschokaron bestätigte ebenfalls, dass der Rückzug nicht erzwungen war, sondern beschrieb diesen als einen «Handel», über dessen Details er und andere Zivilisten keine Kenntnis hätten. Ähnliches geschah in dutzenden anderen Distrikten, wie das Afghanistan Analysts Network sowie andere nicht öffentlich verfügbare Berichte, die SIGA gesehen hat, dokumentieren.

 

Manchmal wurde der kampflose Fall von Distrikten jedoch von den Taliban erzwungen. Zum Beispiel ergaben sich verbleibende Regierungstruppen im Zentrum von Dawlatshah, einem Distrikt in der ostafghanischen Provinz Laghman, ohne jeglichen Widerstand nach Verhandlungen, wie The New York Times berichtete. Dies wurde SIGA von Mirzo, einem Mann aus Dawlatshah, der in Laghmans Hauptort Mehtar Lam lebt, bestätigt. «Die Taliban sandten Stammesälteste zu den verbleibenden Regierungstruppen in Dawlatshah und sagten diesen, dass sie belagert seien und dass sie sich entweder ergeben könnten oder getötet würden», erklärte Mirzo via Telefon. «Als Regierungstruppen nach Tagen unter Belagerung kein Essen mehr hatten, waren sie schliesslich gezwungen, sich zu ergeben.»

 

Während einige Regierungstruppen in der Tat kaum eine Wahl hatten als zu kapitulieren oder sich zurückzuziehen, taten andere dies ohne offensichtlichen Grund. «Regierungstruppen verliessen Farkhor ungefähr um Mitternacht [in der Nacht vom 3. auf den 4. Juli] als die Taliban 10 km weit weg waren», sagte ein Mann, der den Wechsel in der Kontrolle von Farkhor mit eigenen Augen gesehen hatte, SIGA per Telefon. Farkhor ist ein Distrikt in der nordostafghanischen Provinz Takhar, der historisch kaum Taliban-Aktivität verzeichnet hatte. «Als die Taliban einige Stunden später im Distriktszentrum angekommen sind, sah ich, dass ihre Anzahl nur ein Bruchteil der Anzahl der sich zurückziehenden Regierungstruppen war», fügte er hinzu.

 

Dies gesagt scheinen solche Vorfälle zumindest teilweise auf Kriegslisten der Taliban zurückzuführen zu sein. «Wir haben Fälle registriert, in denen wenige Taliban über offene Funkkanäle miteinander sprechen und vorgeben, Hunderte zu sein, die bald naheliegende Regierungspositionen überrennen werden», sagte eine in Afghanistan arbeitende Analystin, die den Konflikt via Quellen im ganzen Land im Detail verfolgt. «Soldaten hören solchen Funkverkehr ab und glauben dies in einigen Fällen, was dazu führt, dass sie sich zurückziehen, obwohl die Taliban sie nicht hätte überwältigen können», führte die Analystin aus.

 

In Anbetracht des Gesagten und obwohl die Taliban sicher eine signifikante Kampfkraft haben, sind sie «keine unaufhaltbare militärische Macht», wie Andrew Watkins, der Hauptanalyst der International Crisis Group für Afghanistan, es gegenüber SIGA zusammenfasste.

Haben die Taliban neue Gebiete unter «Kontrolle»?

Eine andere Frage, der wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, ist, in welchem Grade die Taliban neu eroberte Gebiete effektiv kontrollieren. «Alles ist wunderbar hier», sagte ein Taliban-Gruppenführer, der sich vor ungefähr 14 Jahren den Taliban angeschlossen hatte, SIGA am 28. Juni per Telefon. Der Mann sprach aus Sholgara, einem Distrikt in der nordafghanischen Provinz Balkh, der am 21. Juni an die Taliban fiel. «Die Mudschaheddin mit militärischen Aufgaben sind an der Front, aber es gibt derzeit keine Kämpfe. Und die Mudschaheddin mit zivilen Aufgaben kümmern sich um alles andere: es gibt einen Distriktsgouverneur sowie Verantwortliche für Bildung und Elektrizität, um nur einige zu nennen», behauptete er. Mudschaheddin bedeutet ‘heilige Krieger’ und ist ein Begriff, mit dem die Taliban sich selber bezeichnen.

 

Auf Nachfrage räumte der Gruppenführer jedoch ein, dass die Taliban «keine Kontrollpunkte und keine anderen Kontrollen» in Sholgara etabliert hätten, was impliziert, dass sie offenbar effektiv wenig, wenn überhaupt etwas in den neu eroberten Distrikten machen. Letzteres wurde von zwei Einwohnern von Sholgara, die ebenfalls per Telefon mit SIGA sprachen, bestätigt. «Man kann überall auf den Strassen und im Basar bewaffnete Taliban sehen, aber sie interagieren nicht mit den Leuten», sagte ein Einwohner. «Als die Taliban Sholgara übernahmen, haben sie alle Leute im Basar versammelt und angekündigt, dass das Alltagsleben wie gewöhnlich weitergehen soll. Sie gaben ebenfalls eine Telefonnummer bekannt, die man im Falle von Problemen anrufen könne; aber das war schon alles», führte der Mann weiter aus. Der andere Einwohner, ein Ladeninhaber, bestätigte, dass sein Laden sowie andere in der Tat geöffnet blieben aber auch dass die Taliban bisher wenig im Distrikt gemacht hätten. «Sie haben einige neue Taliban-Gesetze bekannt gegeben, so zu Beispiel, dass sich Männer nicht rasieren sollen und dass man für jedes Gebet in die Moschee gehen müsse, aber bisher haben sie dies nicht kontrolliert oder sonst mit gewöhnlichen Leuten etwas zu tun gehabt», erklärte er.

 

Dass die Taliban zumindest bisher wenig, falls überhaupt, direkte physische Kontrolle in neu eroberten Gebieten ausüben oder dort service public zur Verfügung stellen wurde SIGA auch von anderen Quellen bestätigt. Unter diesen Quellen war Bashir Akhundzada, der an einer Universität lehrt und im administrativen Zentrum von Baghlan-i Markazi lebt, einem Distrikt in der nordafghanischen Provinz Baghlan, der nach heftigen Kämpfen am 21. Juni an die Taliban fiel. «Die Taliban [in Baghlan-i Markazi] haben bisher keinen service public zur Verfügung gestellt und es bleibt unklar, ob sich das ändern wird», sagte er. «Als die Regierung hier war, war Korruption — im Gegensatz zu jetzt unter den Taliban — ein Problem, aber die Regierung hat zumindest Dienste wie Gesundheitsversorgung, Bildung, und Elektrizität organisiert», erklärte er.

 

«Auf der anderen Seite ist die Sicherheitslage unter den Taliban besser. Es ist ruhig und ich habe nicht einen Bericht gehört, dass die Taliban Zivilisten belästigt haben», gab er weiter an. Derselbe Eindruck wurde SIGA auch von anderen Quellen inklusive der Männer aus Sholgara mitgeteilt. Da der Grund für die bessere Sicherheitslage in Taliban-Gebieten wohl der ist, dass die Regierung keine Guerilla-Attacken in Taliban-Gebieten verübt, während die Taliban dies umgekehrt in Regierungsgebieten tun, ist es jedoch fraglich, ob die Taliban den Kredit für Sicherheit in ihren Gebieten verdienen. Darüber hinaus berichtete Human Rights Watch, dass die Taliban in anderen Gebieten Leute nicht nur belästigt, sondern gar mit Gewalt vertrieben und Häuser niedergebrannt hätten.

 

Wie dem auch sei, gemäss Akhundzada würden sich die Leute in Baghlan-i Markazi hauptsächlich «um die Wirtschaft und ob und wie sie unter den Taliban ihren Lebensunterhalt sichern können, sorgen.» Damit gab er weitverbreitete Bedenken von Leuten unter Taliban-Kontrolle wieder (siehe für Beispiele hier und hier). «Beide Systeme, das System der Regierung und das System der Taliban, haben gute und schlechte Seiten», fasste Akhundzada alles zusammen.

 

Das Obige bedeutet nicht, dass die Taliban überhaupt keine Kontrolle ausüben. Wie verschiedene Berichte zeigen, haben die Taliban nominell Beamte wie Distriktsgouverneure, diverse Kommissionen, ein Steuer- sowie ein Justizsystem, und eine Sittenpolizei. «Wo die Taliban Territorium seit geraumer Zeit kontrollieren haben sie sogar ein sehr effizientes System eingerichtet. Distriktsgouverneure und andere Taliban-Beamte können einfach per Telefon oder Funk erreicht werden und diese entscheiden schnell über verschiedenste Dinge», sagte Rahmatullah Amiri, ein Afghane der intensive Recherchen in Taliban-Gebieten durchgeführt hat. «Diese Taliban-Regierungsgewalt ist sehr ad hoc; die meisten Taliban-Beamte haben keinen fixen Standort oder fixe Arbeitszeiten», räumte Amiri ein, «aber dies ist hauptsächlich, da sie verhindern wollen, zum Ziel von Luftschlägen oder Raids zu werden; wie dem auch sei, das System funktioniert.» In diesem Zusammenhang relativieren frühere Recherchen des Afghanistan Analysts Network jedoch, dass die Taliban, sogar in Arealen, die sie seit Langem kontrollieren, ausser Gerichten praktisch keine öffentliche Dienste zur Verfügung stellen; vielmehr würden die Taliban anstelle der Erbringung eigener Dienste von der Regierung oder Nichtregierungsorganisationen finanzierte und betriebene Dienste als Trittbrettfahrer nutzen und als von ihnen erbracht darstellen. Darüber hinaus ist daran zu erinnern, dass glaubwürdige Berichte vorliegen, wonach die Taliban-Justiz zwar schnell sei, jedoch auch regelmässig selbst für kleine Zuwiderhandlungen harte körperliche Bestrafung austeilt und Entscheide teils willkürlich zu sein scheinen (siehe für eines von vielen Beispielen hier).

 

Während Amiri glaubt, dass die Taliban in der Lage wären, ihr Regierungssystem in neu eroberten Gebieten aufzuziehen, wenn sie diese länger halten sollten, gab er auch an, dass «der kürzliche Taliban-Vormarsch so schnell und sogar für die Taliban so unerwartet war, dass die Taliban zur Zeit nicht genügend Männer haben, um in den Distrikten, die sie eben erst übernommen haben, Kontrolle und ihre Regierungsform zu etablieren.» 

 

Selbst wenn die Taliban ihr Regierungssystem in die neu übernommen Gebiete expandieren können sollten, zeigen einige kürzliche Beispiele, dass die Taliban scheinbar teilweise von gewissen Aspekten überwältigt sind. Zum Beispiel wurde viel darüber berichtet, dass die Taliban Shir Khan Bandar, den offiziellen Grenzübergang zwischen der nordafghanischen Provinz Kunduz und Tadschikistan, den sie am 22. Juni übernommen hatten, betreiben und dort Zölle einkassieren würden. Ein gut vernetzter Händler von Kunduz sagte gegenüber SIGA jedoch in einem Telefongespräch, dass Shir Khan Bandar von den Taliban bei weitem nicht so gut betrieben werde wie sie dies behaupten. «Der Grenzübergang ist in der Tat offen und Handel besteht zu einem gewissen Grade fort. Während es, als die Regierung Shir Khan Bandar betrieb, ein klares, auf Gesetz basierendes System gab, ist dies unter den Taliban jedoch nicht mehr der Fall. Die Taliban haben kein System und wissen nicht, welche Güter wie viel wert sind und mit welchem Satz diese zu verzollen sind», erklärte der Mann. Dass die Taliban für das Betreiben eines Grenzüberganges offenbar schlecht vorbereitet sind bekräftigt ein Video welches Taliban zeigt, die etwas ratlos in dem im überrannten Zollgebäude verbleibenden Material herumstöbern. Dies wird indirekt durch ein Bericht des Afghanistan Analysts Network weiter bestärkt, der zwei Journalisten aus Kunduz Stadt zitiert, gemäss denen die Taliban Zöllner gebeten hätten, an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren, wobei die Zöllner diesem Aufruf aus Angst keine Folge geleistet hätten. In einem anderen Beispiel waren die Taliban nicht in der Lage, den Wasserfluss des Dahla Damms, eines Damms in der südafghanischen Provinz Kandahar, den sie im Mai übernommen hatten, zu regeln. Dies führte dazu, dass sich Bauern aus mehreren Distrikten, welche zur Bewässerung ihrer Felder auf das Wasser aus dem Dahla Reservoir angewiesen sind, beschwerten, woraufhin die Taliban von der afghanischen Regierung angestellte Ingenieure um Hilfe ersuchten und letztere schliesslich zum Damm kamen, wie eine Person mit Zugang zu lokalen Quellen SIGA gegenüber erläuterte.

Taliban stöbern durch das verbliebene Material im überrannten Zollgebäude von Shir Khan Bandar, dem offiziellen Grenzübergang zwischen der nordafghanischen Provinz Kunduz und Tadschikistan (Standbild eines Videos, welches am 26. Juni 2021 von afghanischen Journalisten Bilal Sarwary auf Twitter geteilt worden ist (https://twitter.com/bsarwary/status/1408744110295597064))

Angesichts all des Gesagten ist die Behauptung der Taliban, wonach ihre kürzlichen Gebietsgewinne den Wechsel von einer «militärisch und dschihadistischen» zu einer «zivilen Situation» markieren und wonach in neu eroberten Distrikten alles wie geschmiert laufen würde, mehr als fragwürdig. In der Tat ist es diskutabel, ob oder inwiefern die Taliban in naher Zukunft den einschneidenden Wechsel von einem Aufstand, der bisher auf ländliche Gebiete mit wenig Infrastruktur und einer Bevölkerung, die aufgrund vergangener Erfahrung in Sachen öffentlichen Diensten wenig erwartet, beschränkt war, zu einer Entität, die das ganze Land oder ein Grossteil davon regieren müsste, vollziehen können. Dies gilt umso mehr, als dass die Taliban im letzteren Fall ebenfalls mit Bevölkerungsteilen konfrontiert wären, die sie offen ablehnen, und sie sich um Städte und Infrastruktur kümmern müssten, die eine Reihe technischer und logistischer Probleme stellen.

Steht die afghanische Regierung am Rande des Zusammenbruchs?

Aufgrund der kürzlichen Entwicklungen in Afghanistan haben einige Beobachter auch ausgeführt, dass der Zusammenbruch der derzeitigen afghanischen Regierung kurz bevorstünde (siehe beispielsweise hier); eine nüchterne Betrachtung wirft jedoch Fragen über die Wahrscheinlichkeit eines solchen Szenarios in naher Zukunft auf. 

 

Obwohl sogar hochrangige afghanische Regierungsbeamte selber kürzlich sagten, dass «das Überleben (…) und die Einheit von Afghanistan in Gefahr» sei und ausserhalb der Regierung stehende anti-Taliban Führer zu einer «nationalen Mobilisierung» von gewöhnlichen Leuten gegen die Taliban aufgerufen haben (siehe beispielsweise hier), droht ausser den Taliban (und einem kleinen lokalen Ableger des selbsternannten Islamischen Staates) niemand dem Staat offen mit Umsturz und scheint auch niemand in einer Position zu sein, dies zu tun. «Solange Versprechen zur Fortführung von U.S. und westlicher Finanzhilfe in Milliardenhöhe weiterbestehen, bleibt der afghanische Staat — selbst wenn es nur eine Hülle sein sollte — die attraktivste Quelle für Ressourcen für politische Akteure der [derzeitigen] Islamischen Republik Afghanistan», erklärte Watkins in diesem Zusammenhang. «Bis sich die Situation zu einem Punkt entwickelt, in der die politische Elite mit dem Rücken zur Wand steht und auf der Basis von Überleben zu operieren beginnt, erscheint eine Ablehnung oder eine offene Revolte gegen den Staat unwahrscheinlich», fügte er weiter hinzu. Dementsprechend erscheint ein von der politischen Seite ausgelöster Zusammenbruch des derzeitigen Staates trotz der besorgniserregenden Zwiste unter afghanischen Politikern unwahrscheinlich.

 

Ein anderer Faktor der gemäss einigen Beobachtern zum Zusammenbruch des Staates führen könnte, ist die grosse Anzahl an Regierungstruppen, die sich während des kürzlichen Taliban-Vormarsches ergeben hatten. Während es ausser Frage steht, dass die Kapitulation von zahlreichen Soldaten und Polizisten ein ernsthaftes Problem für die afghanische Regierung ist, impliziert ein nüchterner Blick auf die Zahlen, dass die Situation nicht ganz so kritisch ist, wie Taliban und andere Berichte weismachen.

Sich ergebende afghanische Regierungstruppen legen ihre Waffen in Darqad, einem Distrikt in der nordöstlichen Provinz Takhar, nieder (Standbild eines auf den 21. Juni 2021 datierten, vom Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid auf Twitter geteilten Videos (https://twitter.com/Zabehulah_M33/status/1407029003656048646))

Gemäss einem von den Taliban publizierten Communiqué haben sich im Mai 1’533 Mitglieder der Sicherheitskräfte und andere Regierungsangestellte den Taliban angeschlossen; im Juni haben sich sodann weitere 1’300 Sicherheitskräfte den Taliban ergeben, wie Taliban-Sprecher Mujahid SIGA gegenüber sagte. Mujahid fügte zudem an, dass im Juni 250 bis 300 weitere Sicherheitskräfte verhaftet und ungefähr 100 bis 150 getötet worden seien. Dies wären zusammen etwas über 3’000 Sicherheitskräfte in zweit Monaten, was — angesichts der Erfahrung mit Taliban-Aussagen — gut übertrieben sein kann. Selbst wenn die Zahlen der Taliban stimmen sollten, würde dies jedoch zeigen, dass die Anzahl von kapitulierenden Sicherheitskräften zwar hoch und sicherlich besorgniserregend ist, jedoch nach wie vor unter 1% der mehr als 298,000 afghanischen Regierungsstreitkräfte bleibt (die genannte Zahl aus einem offiziellen U.S.-Bericht schliesst das Nationale Direktorat für Sicherheit, Afghanistans paramilitärischen Geheimdienst dessen numerische Stärke unbekannt, jedoch signifikant ist, aus; dementsprechend ist die effektive Anzahl von Regierungsstreitkräften um einiges höher als 298,000).

 

Unter diesen Umständen werden diese Kapitulationen allein nicht zu einem Kollaps der Sicherheitskräfte führen. Letzteres gilt umso mehr, als dass afghanische Regierungstruppen in der Vergangenheit bewiesen haben, dass sie schweren Verlusten standhalten können. Ausserdem ist anzumerken, dass die Taliban selber laut nicht öffentlich zugänglicher Daten die von SIGA eingesehen worden sind während ihrer kürzlichen Vorstösse schwere Verluste erlitten haben, namentlich in Vergeltungsluftschlägen der afghanischen Luftwaffe. Wie dem auch sei besteht in Abwesenheit von erfolgreichen Konter-Operationen und Gegenpropaganda der afghanischen Regierung, die bisher wenig, wenn überhaupt, auf die derzeitige Krise reagiert hat, die Gefahr, dass die erfolgten Kapitulationen und die tiefe Moral in einem Teufelskreis eine Panik erzeugen könnten, die zu tatsächlichen Massenkapitulationen führen könnte. Da die obengenannten Zahlen zeigen, dass dies bisher scheinbar nicht geschehen ist, und ein Offizier der afghanischen Nationalarmee, der offen Kapitulationen in der Provinz Ghazni zugab, gegenüber SIGA auch Beispiele erwähnte, in denen Regierungstruppen sich trotz der unmöglichen Situationen, in denen sie sich befanden, weigerten sich zu ergeben, scheint das Szenario einer Massenpanik — zumindest im Moment — unwahrscheinlich. Dies wird durch die Tatsache bekräftigt, dass Regierungstruppen in Qala-i Naw, dem Hauptort der Provinz Badghis, trotz dem Überlaufen von einigen Soldaten und Polizisten, inklusive hochrangiger Offiziere, nicht zusammenbrachen, als die Taliban den Ort am 7. Juli angriffen. 

Schlussfolgerung

Alles in allem steht es ausser Frage, dass die beispiellose Übernahme von weit über 100 Distrikten durch die Taliban ein mehr als herber Rückschlag für die afghanische Regierung ist und gravierende Bedenken auslöst. Eine genauere Betrachtung zeigt jedoch, dass zahlreiche der genannten Distrikte entweder tiefhängende Früchte waren, in denen die Regierung kaum eine Präsenz hatte, oder mehr aufgrund Chaos auf Regierungsseite denn aufgrund der militärischen Schlagkraft der Taliban gefallen sind. Darüber hinaus scheinen die Taliban in den neu eroberten Gebieten wenig Kontrolle auszuüben, was deren Stärke weiter relativiert und der Regierung die Möglichkeit eröffnet, verlorene Areale zurückzuerobern. Selbst wenn letzteres nicht möglich sein sollte und die Taliban ihre Übernahme von Distrikten weiterführen und gar auf Provinzhauptorte ausweiten sollten, würde dies alleine nicht automatisch zum kompletten Zusammenbruch des afghanischen Staates führen — es sei denn derzeitige Sorgen würden aus dem Ruder laufen und zu einer ausgemachten Panik unter afghanischen Truppen und Beamten führen. Als solches wird in den nächsten Tagen und Wochen der Darstellung der Situation sowie Propaganda eine kritische Rolle zukommen.

 

In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass der Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid in einem am 30. Juni ausgestrahlten Interview erklärte, dass der kürzliche Taliban-Vormarsch nicht bedeutet, dass zumindest offiziell immer noch laufende intra-afghanische Verhandlungen zwischen den Taliban und einer von der Regierung geführten Gruppe anderer afghanischer Interessenvertretern in Doha, Qatar, aufgegeben werden sollten. Ganz im Gegenteil bezeichnete er diese Verhandlungen als «effektiv und gut» und sagte, dass diese fortgeführt werden sollen. Aufgrund der Handlungen und anderen Aussagen der Taliban, insbesondere nach ihren letzten Gebietsgewinnen, bedeutet dies aber wohl nicht echte Friedensgespräche sondern einen Versuch der Taliban, die Kapitulation der afghanischen Regierung zu verhandeln. Nichtsdestotrotz weist dies darauf hin, dass die Taliban immer noch anstreben, am Verhandlungstisch zu gewinnen anstatt zu versuchen, das ganze Land mit Gewalt einzunehmen. Dies ergibt sich auch aus dem Umstand, das glaubhafte Berichte und Indizien zeigen, dass die Taliban offenbar bewusst davon absehen, Provinzhauptorte zu übernehmen.

 

In Anbetracht all des Ausgeführten bleibt das wahrscheinlichste Szenario daher, dass der Abzug aller U.S.-amerikanischer und alliierter Truppen vielleicht den Krieg für westliche Truppen beendet, aber nicht für Afghanen, da eine zurückgedrängte afghanische Regierung versuchen wird, den Vormarsch der Taliban auf dem Schlachtfeld zu brechen und die Taliban sich bemühen werden, aus ihren kürzlichen beträchtlichen Gebietsgewinnen sowohl militärisch als auch politisch weiteres Kapital zu schlagen.

Franz J. Marty


[1] Die genaue Anzahl von Afghanistans Distrikten variiert von Quelle zu Quelle, da einige Distrikte entweder informell oder durch präsidiale Anordnung in neue Distrikte unterteilt worden sind, wobei teils unklar ist, ob oder inwiefern diese dann tatsächlich als neue, eigenen administrative Einheiten bestehen.