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Strategie der Schweiz zu Sicherheit und Verteidigung

Interview mit Nationalrat Thomas Rechsteiner, Die Mitte Kanton Appenzell I.-Rh.


Im Juni 2022 hat Nationalrat Thomas Rechsteiner eine Motion im Bundesparlament eingereicht, die eine übergeordnete Strategie zur Sicherheit und Verteidigung der Schweiz fordert. Die bisherigen Berichte zur Sicherheitspolitik und über einzelne Bereiche der Verteidigung sollen in eine übergeordnete Strategie münden. Die «Vernetzung, Abhängigkeiten, Ergänzungen und Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Departementen, den Staatsstufen als auch den unterschiedlichen Kompetenzbereichen bzgl. Sicherheit und Verteidigung der Schweiz» seien zu koordinieren. Das Swiss Institute for Global Affairs (SIGA) hat mit Thomas Rechsteiner über seine Forderung gesprochen.

 

 

«Die Verteidigungsarchitektur kann im Bereich der übergreifenden Zusammenarbeit, Digitalisierung, Kommunikation und Erhalt der sicherheitstechnologischen Industriebasis verbessert werden.»


SIGA: Herr Rechsteiner, offensichtlich war der vor einem Jahr startende Krieg Russlands gegen die Ukraine ausschlaggebend für Ihren Vorstoss. Welche Beobachtungen und Erfahrungen in der Schweizer Sicherheitspolitik haben Sie motiviert, eine solche Motion einzureichen?

Thomas Rechsteiner: Die Erfahrungen aus der Covid Zeit, in der die Zusammenarbeit der drei Staatsebenen nicht optimal funktionierte und bereits ein blockierter Container von Masken zu aussenpolitischen Spannungen geführt hat, sind mir immer noch in Erinnerung. Dann kam der russische Überfall auf die Ukraine, einen souveränen Staat. Dieser hat uns klar vor Augen geführt, dass die Zeit des ewigen Friedens in Europa vorbei ist. Wie viele andere Länder haben auch wir die Verteidigungsbereitschaft seit dem Fall der Berliner Mauer sträflich vernachlässigt. Die Schweiz könnte nach Aussagen unseres Armeechefs einem ausländischen Aggressor nicht lange Stand halten, dann wäre Ende Feuer. Das muss sich ändern, es braucht nun eine übergeordnete Strategie zur Sicherheit und Verteidigung der Schweiz, und zwar rasch.

Es gibt im militärischen Kontext Berichte zu den Teilbereichen Boden, Luft und Cyber. Offenbar fehlte der Schweiz bis jetzt aber eine übergeordnete Verteidigungsstrategie. Wo sehen Sie hier in Abgrenzung zum Sicherheitspolitischen Bericht den Mehrwert einer Ebene Verteidigungsstrategie?

Zu bemängeln ist die Gesamtschau, die einzelnen Bereiche unserer Verteidigungsstrategie sind zu wenig miteinander vernetzt, so wird z. B. die Kommunikation, die Digitalisierung und auch die Zusammenarbeit der politischen Behörden über Bund und Kantone zu wenig klar geregelt. Verteidigung ist mehr als Armee, Boden, Luft und Cyber. Das Zusammenspiel der politischen Entscheidungsträger, die Umsetzung in der Praxis und die schnelle Reaktion auf innen- wie aussenpolitische Entwicklungen gehören auch dazu – das geht über den Rahmen des Sicherheitspolitischen Berichts hinaus. Auch die Werterhaltung, der Unterhalt und die Logistik für die Armee ist für Krisenzeiten zu planen, was den Einbezug der Wirtschaft ebenfalls notwendig macht.

Im Krieg in der Ukraine zeigt sich, dass unterschiedliche Bereiche, wie Logistik, Informations- und Kommunikationskanäle, Rüstungswirtschaft, Energie und Infrastrukturen zentrale Pfeiler einer Verteidigung sind. Müsste das auch in der Schweiz zu einer übergeordneten, interinstitutionellen Verteidigungspolitik gehören?

Eindeutig, die zähe Widerstandsfähigkeit der Ukrainer zeigt mit aller Deutlichkeit auf, dass das Zusammenspiel aller Kräfte, wie es die Verteidiger praktizieren, ein wichtiger Erfolgsfaktor ist. Gerade die eigene Rüstungsindustrie spielt dabei eine grosse Rolle. Es ist daher alles zu unternehmen, unsere Rüstungsindustrie zu stärken und nicht zu schwächen, ihre Exportfähigkeit muss aufrechterhalten werden. Deshalb setze ich mich mit Vehemenz dafür ein, dass in Drittstaaten exportierte Schweizer Waffen und Munition unter genau definierten, mit unserer Neutralität kompatiblen Bedingungen an die Ukraine weitergegeben werden dürfen. 

Wo sehen Sie dabei die grössten Lücken in der Schweizer Verteidigungsarchitektur?

Die Verteidigungsarchitektur kann im Bereich der übergreifenden Zusammenarbeit, Digitalisierung, Kommunikation und Erhalt der sicherheitstechnologischen Industriebasis verbessert werden. Zuerst gilt es nun, die Ausgaben für die Verteidigung wie vom Parlament beschlossen bis 2030 auf mindestens 1 Prozent des BIP zu erhöhen. Die Aufschiebung bis 2035, wie vom Bundesrat beantragt, ist klar abzulehnen, der Sicherheitspolitik muss nun absolut erste Priorität zukommen. Der Personalbestand der Armee ist zu erhöhen, der Kernauftrag der Armee, nämlich der Verteidigungskampf, ist zu stärken, und die Lücken vor allem bei der Luftabwehr und der veralteten Artillerie mit zu kleiner Reichweite sind rasch zu schliessen.

Das klingt nach der alten Gesamtverteidigung. Wie könnte aus Ihrer Sicht eine neue, moderne Gesamtverteidigung in der Schweiz aussehen?

Meine übergeordnete Strategie zur Sicherheit und Verteidigung der Schweiz hat nichts mit einer alten Gesamtverteidigung zu tun. Vernetzung aller Bereiche (z. B. politisch und wirtschaftlich) und die Cyberabwehr spielen eine viel grössere Rolle als in der Vergangenheit. Die Einsicht, dass Gesamtverteidigung nicht rein militärisch erfolgt und eine Gesamtverteidigung auch das Verhalten der Nachbarstaaten berücksichtigen muss, stärkt diese Haltung. Auch das veränderte Kriegsbild (Cyber, Söldner, hybride Konfliktführung, etc.) fordert neue Denk- und Handlungsweisen. Unsere Armee basierend auf dem Milizsystem soll wieder einen höheren Stellenwert erhalten, die Frauen sind noch stärker als bisher in die Gesamtverteidigung einzubinden und unsere einheimische Rüstungsindustrie ist zu stärken statt zu schwächen.

Welche Rolle könnten die Miliz und das föderale Prinzip im Hinblick auf eine solche neue Gesamtverteidigung 4.0 spielen?

Das Milizsystem ist zu stärken und die Verwaltungseinheiten des Bundes müssen unter Federführung des VBS in allen verteidigungs- und militärrelevanten Fragen noch vermehrt und vernetzter zusammenarbeiten. Obwohl ich ein vehementer Verfechter des Föderalismus bin, glaube ich, dass in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik die Federführung ganz klar beim Bund liegen muss, hier braucht es klare und rasche Zuständigkeiten und einfache Befehlsketten. Lange Diskussionen können wir uns in diesem zentralen und sensiblen Bereich nicht leisten. Die Kommunikation und die «geistige» Landesverteidigung muss einheitlich und gut koordiniert erfolgen, was zwar in der Umsetzung föderal erfolgen kann, bei der Ausgabe vorteilhaft an einem Ort stattfindet. 

Welche Erwartungen haben Sie an die Behörden nach Annahme Ihrer Motion in Bezug auf die Verteidigungsstrukturen und strategische Ausrichtung?

Nachdem der Bundesrat meine Motion zur Annahme empfiehlt und der Nationalrat sowie der Ständerat einstimmig dafür sind, erwarte ich vom Bundesrat eine rasche Umsetzung meiner Motion. Der Bericht zur übergeordneten Strategie zur Sicherheit und Verteidigung der Schweiz ist dem Parlament noch in diesem Jahr zu unterbreiten. Die Motion verlangt nicht eine neue Verteidigungsstruktur, sondern eine Strategie, wie die vorhandenen militärischen, wirtschaftlichen und politischen Ressourcen am besten zusammenarbeiten und ggf. noch ergänzt werden. Ich erwarte deshalb eine stimmige Strategie, welche bestehende Akteure einbezieht, die verfassungsmässigen Kompetenzen des Bundes, der Kantone und Gemeinden berücksichtigt und flexible Anpassungen an die veränderten Rahmenbedingungen bringt.

Die Strategie soll gemäss Motionär zudem eine Umschreibung der Mittel und Wege beinhalten, um die Ziele der Schweiz im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu erreichen. Sie soll als Grundlage des «gemeinsamen, zielorientierten Handelns der Schweiz» dienen. Die Motion wurde im September 2022 im Nationalrat, sowie am 1. März 2023 im Ständerat oppositionslos angenommen.


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