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Georgien — Zwischen EU-Kandidatur und angeblich geplantem Staatsstreich

TBILISI, GEORGIEN — Oktober 2023

Graffitis an einer Hauswand im Zentrum der georgischen Hauptstadt Tbilisi, die den Wunsch einer Eingliederung in Europa und die Ablehnung von Russland zeigen (Franz J. Marty, 20. Oktober 2023)
Graffitis an einer Hauswand im Zentrum der georgischen Hauptstadt Tbilisi, die den Wunsch einer Eingliederung in Europa und die Ablehnung von Russland zeigen (Franz J. Marty, 20. Oktober 2023)

Während die Europäische Union demnächst wieder entscheiden wird, ob Georgien der Status eines EU-Mitgliedschaftskandidaten gewährt werden soll, werfen anhaltende politische Kontroversen in der kleinen Kaukasus-Republik — inklusive Anschuldigungen der Regierung, dass Oppositionskräfte die gewählte Regierung umstürzen wollen, und Oppositionsvorwürfen, wonach die Regierung pro-russisch sei und Georgiens Demokratie und westliche Ausrichtung untergrabe — einen langen Schatten über die kommende EU Entscheidung und Georgiens Zukunft.

Georgiens Ziel einer vollständigen Integration in die Europäische Union (EU) ist nicht nur ein politischer Slogan. Es ist nicht nur explizit in Artikel 78 der georgischen Verfassung erwähnt, sondern zeigt sich auch im Hissen von europäischen Flaggen vor Regierungsgebäuden und an vielen privaten Häusern. Gemäss einer im April 2023 publizierten Umfrage, unterstützen 89% von Georgiern Pläne, sich der EU anzuschliessen. Dementsprechend ist die in den nächsten Monaten anfallende Entscheidung der EU, ob Georgien der Status eines EU-Mitgliedschaftskandidaten gewährt werden soll, für die Zukunft des Landes von grosser Bedeutung.

Dies gilt umso mehr, als dass die georgische Regierung am 31. Juli 2023 mit China eine «strategische Partnerschaft» eingegangen ist. Letzteres hat Beobachter insbesondere daher überrascht, da eine solche strategische Partnerschaft mit China potentiell mit Georgiens Ziel einer vollen Integration in die EU und NATO in Konflikt steht — und der bevorstehende EU-Entscheid daher eine Rolle spielen könnte, ob sich die georgische Regierung weiterhin nach Westen ausrichten oder vermehrt nach China blicken wird.

Dies gesagt, ist die erwähnte EU-Entscheidung alles andere als eine sichere Sache, unter anderem da sich verschiedene politische Lager in Georgien, von denen alle angeben, die angestrebte EU-Integration zu unterstützten, gegenseitig anschuldigen, den laufenden Prozess zu sabotieren. Letzteres geht soweit, dass der Staatssicherheitsdienst Georgiens (State Security Service of Georgia (SSSG)) angibt, dass ehemalige Beamte und Aktivisten der Zivilgesellschaft planen, die derzeitige gewählte Regierung gewaltsam umzustürzen, und Kritiker handkehrum behaupten, dass die Regierung pro-russisch sei und durch Angstmacherei regiere.

 

Erster erfolgloser Versuch einer EU-Kandidatur

 

Dies ist nicht das erste Mal, dass die EU sich mit der Frage beschäftigt, ob Georgien der Status eines EU-Mitgliedschaftskandidaten gewährt werden soll. Im Juni 2022 entschied der Europäische Rat über Kandidaturgesuche nicht nur von Georgien, sondern auch der Ukraine und Moldawien. Der Europäische Rat ist die EU-Institution, die die generelle politische Richtung der Union bestimmt und auch über EU-Erweiterungen entscheidet; der Rat besteht aus den Staats- und Regierungsoberhäuptern aller 27 EU-Mitgliedsstaaten, dem Präsidenten des Europäischen Rates, und dem Präsidenten der Europäischen Kommission.

Damals gewährte der Europäische Rat jedoch nur der Ukraine und Moldawien den Status eines EU-Kandidatenlandes. Bezüglich Georgien vertagte der Rat ein definitives Urteil. Namentlich wurde festgehalten, dass Georgien der EU-Kandidatenstatus verliehen würde, sofern Georgien weitere Schritte implementiere. Die gewünschten Schritte sind namentlich:

  • De-Polarisierung georgischer Politik
  • Stärkung der Unabhängigkeit, Rechenschaftspflicht, und demokratischer Kontrolle von staatlichen Institutionen und weitere Verbesserungen des Wahlsystems
  • Justizreformen
  • Stärkung der Unabhängigkeit von Georgiens Anti-Korruptionsbehörde
  • «De-Oligarchisation»
  • Stärkung des Kampfes gegen organisiertes Verbrechen
  • Stärkung von Bemühungen zur Garantie von Medienfreiheit
  • Stärkung des Schutzes von Menschenrechten von exponierten Gruppen
  • Konsolidierung von Bemühungen zur Geschlechtergleichheit und dem Kampf gegen Gewalt gegen Frauen
  • Sicherstellung der Involvierung der Zivilgesellschaft in Entscheidungsprozessen
  • Gesetzgebung, die sicherstellt, dass georgische Gerichte Entscheide des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte berücksichtigen
  • Sicherstellung eines unabhängigen Ombudsmannes

Diesbezüglich erklärte der Vize-Präsident der Europäischen Kommission und der Hohe Vertreter der EU für ausländische Angelegenheit und Sicherheitspolitik, Josep Borell, im September 2023 während eines Besuches von Georgien, dass Georgien drei der genannten Schritte — namentlich Bemühungen zur Geschlechtergleichheit; Sicherstellung, dass georgische Gerichte Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte berücksichtigen; und die Sicherstellung eines unabhängigen Ombudsmannes — umgesetzt hätte, betreffend der neun übrigen Schritte, aber immer noch «eine ganze Menge Arbeit erledigt werden muss». Dabei erwähnte Borrell die «starke politische Polarisierung» explizit als «eine der Hauptherausforderungen».

 

Geplanter Staatsstreich…

 

Das wohl brisanteste Beispiel existierender politischer Polarisierung ist, dass Kritiker, nachdem der SSSG im September 2023 öffentlich über einen angeblichen Plan zum gewaltsamen Umsturz der georgischen Regierung informierte, dies sofort als politisch motivierten Versuch bezeichneten, die Öffentlichkeit zu verschrecken.

Genauer erklärte der SSSG am 18. September 2023 in einer öffentlichen Mitteilung, dass «gewisse Gruppen in- und ausserhalb Georgiens» planen würden, «zivile Unruhen» zu schüren, «um einen gewaltsamen Machtwechsel» herbeizuführen. Der SSSG erklärte weiter, dass dieser Plan zwischen Oktober und Dezember 2023 in die Tat umgesetzt werden solle, wenn eine potentielle negative EU-Entscheidung bezüglich Georgiens angestrebter EU-Mitgliedschaftskandidatur einen «nährhaften Boden» für einen solchen Coup schaffen könnte. Das Communiqué erwähnt explizit angebliche Pläne, eine Zeltstadt zu errichten und verglich dies mit dem «ähnlichen Szenario des Euromaidan in der Ukraine in 2014». Dies ist ein Verweis auf Massenproteste Ende 2013 und Anfang 2014 in der Ukraine, die zu tödlichen Zusammenstössen zwischen Sicherheitskräften und Protestanten und schliesslich zur Absetzung der damaligen ukrainischen Regierung führten. In diesem Zusammenhang ging die SSSG-Erklärung sogar so weit zu behaupten, dass die Planer des Staatsstreiches vorhätten, in der angeblich geplanten Zeltstadt in Georgien eine Bombe zu detonieren, um gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Protestanten und Sicherheitskräften zu entfachen.

Der SSSG implizierte namentlich den ehemaligen georgischen stellvertretenden Minister für interne Angelegenheiten Giorgi Lortkipanidze, der sich in die Ukraine abgesetzt hat und dort derzeit als stellvertretender Chef der Spionageabwehr des ukrainischen Militärgeheimdienstes tätig ist; Mikheil Baturini, einen ehemaligen Leibwächter des inhaftieren georgischen ex-Präsidenten Mikheil Saakashvili; und Mamuka Mamulashvili, den Anführer der georgischen Legion, einer Einheit von georgischen Freiwilligen, die auf der Seite der Ukraine im Ukraine-Krieg kämpft, in das genannte Komplott verwickelt zu sein.

Die SSSG-Erklärung beschuldigt zudem die Organisation CANVAS, Jugendliche für die erwähnten «revolutionären Szenarien» vorzubereiten. CANVAS steht für Center for Applied Nonviolent Action and Strategies und ist eine Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Serbien, welche ihre Mission als «Einsetzung für den Gebrauch von nicht-gewalttätigem Widerstand in der Förderung von Menschenrechten und Demokratie» durch das Veranstalten von Trainings und das Verbreiten von «revolutionärem ‘know-how’» beschreibt. CANVAS wurde von ehemaligen Mitgliedern von Otpor! gegründet, einer serbischen Bewegung, die um die Jahrtausendwende Proteste gegen die damalige serbische Regierung von Slobodan Milosevic organisiert hatte.

Später, genauer am 2. Oktober 2023, reichte der SSSG weitere Informationen nach und gab an, dass drei serbische Mitglieder von CANVAS die georgische Hauptstadt Tbilisi besucht hätten, um zwischen dem 26. und 29. September 2023 ein Training durchzuführen. Das fragliche Training war offen online ausgeschrieben wobei es sich, gemäss besagter Annonce, an «Aktivisten und Initianten im Bereich von Kunst und Kultur» richtete und «nicht-gewalttätige Methoden von zivilem Aktivismus, Selbstorganisation, und Mobilisation von Unterstützern» lehren sollte. Laut SSSG war der echte Zweck dieses Trainings jedoch Jugendliche zu trainieren, damit diese als Kern des oben ausgeführten Coup-Komplottes agieren können. Der SSSG gab namentlich an, dass das Training beinhaltet haben soll, wie vor Gebäuden zu protestieren sei, um deren Eingänge zu blockieren, wie Protest-Zelte aufgestellt werden können, wie man Verkehrsstaus kreieren könne, wie man sich bei Verhaftung verhalten solle, und wie man öffentliche Gebäude, inklusive öffentliche TV- oder Radiostationen, übernehmen könne.

Um seine Behauptungen zu untermauern, veröffentlichte der SSSG auch ein heimlich gefilmtes Video, welches Segmente des besagten Trainings zeigt. In diesem ungefähr 8 Minuten langen, zusammengeschnittenen Video, scheinen serbische Kursleiter in der Tat gewisse der oben genannten Themen zu diskutieren.

Was die SSSG-Anschuldigung noch brisanter macht, ist, dass das fragliche Training vom USAID Civil Society Engagement Program mitfinanziert wurde. Irakli Kobakhidze, der Vorsitzende der regierenden Partei «georgischer Traum» bezeichnete dies gar als «den verstörendsten Fakt» dieser Geschehnisse und beschuldigte die U.S.-amerikanische Hilfsagentur «extremistische Aktivitäten» zu unterstützten, anstatt Georgien zu helfen.

 

… oder legitimer ziviler Aktivismus?

 

Die implizierten Personen und Organisationen wiesen alle genannten Vorwürfe zurück. Giorgi Lortkipanidze erklärte via seinem Anwalt gegenüber der georgischen Nachrichtenagentur Interpressnews, dass die Anschuldigungen «absurd» seien, wobei er hinzufügte, dass er seit acht Jahren nicht mehr in Georgien gewesen sei und keinerlei politische Agenda in Georgien habe. Dies gälte umso mehr als er «24 Stunden [am Tag] die russische Föderation [in der Ukraine] bekämpft». Gemäss der gleichen Agentur beschrieb Mikheil Baturini die genannten Vorwürfe als «Nonsens», wobei er weiter angab, dass es ihn nicht überrasche, dass die seiner Ansicht nach pro-russische georgische Regierung zu solchen «Sowjet»-Methoden greife. Die georgische Medienorganisation Formula News berichtete sodann, dass Mamuka Mamulashvili, die SSSG-Angaben als «direkt von Russland diktiert» charakterisierte und dies ein Versuch sei, die georgische Legion, die Russland in der Ukraine bekämpft, zu diskreditieren. Ein vom Schweizerischen Institut für Global Affairs (SIGA) indirekt kontaktiertes anderes Mitglied der georgischen Legion in der Ukraine beschrieb die SSSG-Vorwürfe in ähnlicher Weise als «psychologische Kriegsführung» und «sehr lahm». Angesichts der U.S.-Finanzierung des fraglichen Trainings, reagierte auch die U.S. Botschaft in Georgien auf die Anschuldigungen, wobei sie in einem Communiqué bekannt gab, dass diese «falsch sind und die Ziele unserer Unterstützung von Georgien fundamental falsch charakterisieren».

Auf Anfrage von SIGA verwies das CANVAS Hauptbüro in Serbien lediglich auf eine Presseerklärung, in der CANVAS die SSSG-Vorwürfe als «falsch», «absurd», und «Teil einer grösseren Schmierkampagne» bezeichnet, die bezwecke, CANVAS und Aktivisten im Allgemeinen «unter Druck» zu setzen. Dies wurde von Giorgi Meladze, einem Mitglied von CANVAS Georgien bestätigt, der SIGA weitere Kommentare gab. «Das Video wurde stark geschnitten und reisst Sachen aus dem Kontext. Die Aussagen im Video beziehen sich alle auf vergangene Beispiele von Protesten, die in Revolutionen endeten, jedoch nicht auf die derzeitige Situation oder Pläne in Georgien,» insistierte Meladze. «Dies wurde im Detail diskutiert, um zu lehren, dass man selbst in den schwierigsten Situationen keine Gewalt anwenden soll,» versicherte Meladze weiter. Er erklärte ebenfalls, dass dasselbe Training bereits in vergangenen Jahren in Georgien durchgeführt worden sei und die Trainingsmaterialien offen auf der CANVAS Webseite publiziert seien; etwas das auch die Presseerklärung des CANVAS Hauptsitzes erwähnte. «Vergangene solche Trainings hatten nie zu Beschwerden oder zur Reaktionen von staatlicher Seite geführt,» fügte Meladze hinzu.

Für Meladze, der wie die serbischen Kursleiter vom SSSG befragt wurde, sind die Vorwürfe eines Staatsstreiches Teil einer «massiven Angstkampagne», die die georgische Regierung begonnen hätte. Gemäss Meladze fing alles früher im Jahre 2023 an, als die georgische Regierung eine neue Gesetzgebung verabschieden wollte, die Organisationen und Personen in Georgien, die ausländisch finanziert werden, verpflichtet hätte, sich als ausländische Agenten zu registrieren. Die Gesetzgebung ähnelte einem russischen Gesetz, dass nach Protesten gegen Wladimir Putin in der Folge seiner Wiederwahl zum russischen Präsidenten im Jahre 2012 erlassen wurde. In Georgien war die Regierung schliesslich gezwungen, den kontroversen Gesetzgebungsvorschlag zurückzuziehen, nachdem es Anfang März 2023 zu Massenprotesten gegen den Vorschlag kam. «Das war eine Niederlage für die Regierung,» sagte Meladze, wobei er anfügte, dass die Regierung «nicht verstand, woher diese Proteste kamen. Und dies schuf eine Hysterie innerhalb der Regierung.» Laut Meladze versucht die Regierung daher nun Leute einzuschüchtern, um die Wiederholung solcher Proteste zu verhindern.

Das Argument, dass Trainings, die:

  • Verweise auf «Moldawier, Ägypter, und Ukrainer» machen, die dieselben Trainings erhalten hätten und dann «Revolutionen» anstiessen;
  • die aussagen, dass «mit Euren Taten könnt Ihr Leute konvertieren, Leute zwingen, Leute zerstören»;
  • die ein Beispiel diskutieren, wie Protestanten es schafften, eine Fernsehstation zu übernehmen und Sendungen zu unterbrechen; und
  • die erwähnen, dass ein Faktor sei, «wie viele Leute bereit sind zu riskieren verhaftet zu werden»

militant klingen, als Aufrufe zum Umsturz der Regierung verstanden werden können, und eine Reaktion von staatlichen Behörden, die mit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung betraut sind, provozieren, lässt Meladze nicht gelten. Er wiederholte, dass das fragliche Training lediglich legitimen, nicht-gewalttätigen Aktivismus lehrte. «Nach allem, was geschehen ist, fühle ich mich noch mehr darin bestätigt, dass wir das Richtige tun,» schloss er.

Mit Obigem konfrontiert, gab der SSSG SIGA am 16. Oktober 2023 an, dass Behauptungen, wonach die in den Video-Segmenten festgehaltene Aussagen aus ihrem Kontext gerissen wurden, lediglich versuchen würden, «die Öffentlichkeit in die Irre zu führen». Der SSSG insistierte darüber hinaus erneut, dass der öffentlich bekannt gegeben Zweck des Trainings sich vom effektiven Inhalt unterschieden hätte, den der SSSG als «Lehren von Taktiken zum Umsturz der Regierung» bezeichnete.

Der SSSG bestätigte darüber hinaus, dass per 16. Oktober 2023, keine Personen oder Organisationen formell als Verdächtigte behandelt worden oder formell angeschuldigt worden seien und dass alle Kursleiter und Teilnehmer des Trainings, die befragt worden sind, lediglich als Zeugen oder Auskunftspersonen befragt worden seien. Auf die Frage, weshalb es den drei serbischen Trainer trotz diverser spezifischer und schwerwiegender Anschuldigungen erlaubt wurde, Georgien zu verlassen, erklärte der SSSG SIGA gegenüber, dass es nicht nötig gewesen sei, diese festzuhalten. Der SSSG fügte diesbezüglich an, dass die Untersuchung sowie Bemühungen, das angebliche Komplott zu verhindern, nach wie vor anhalten.

Angesichts der fast ausschliesslich polemisch gehaltenen Diskussionen der genannten Vorwürfe — der georgische Premierminister Irakli Gharibashvili bezeichnete die angeblichen Planer des Komplottes beispielsweise als «zwielichtige, destruktive, radikale Kräfte», währendem Kritiker die Regierung oft generell als autoritäre pro-russische Oligarchen verunglimpfen — wird der Umstand, dass der SSSG und Aktivisten der Zivilgesellschaft im Kern über den Inhalt des fraglichen Trainings nicht uneinig sind, sondern nur über die komplizierte Frage streiten, wo die nötige Linie zwischen legalem Ausüben ziviler Rechte und der illegalen Störung der öffentlichen Ordnung zu ziehen ist, kaum je behandelt.

Und wenn dies gemacht wird, führt es gewöhnlicher Weise nur zu weiterer Polemik. Kurz nach der Bekanntgabe der genannten Coup-Vorwürfen, schlugen Parlamentarier Anfang Oktober 2023 Anpassungen des georgischen Gesetzes über Versammlungen und Demonstrationen vor, wobei diese namentlich unter gewissen Umständen verbieten sollten, «temporäre Strukturen» zu errichten. Während dies klar auf die Verhinderung der angeblich geplanten Errichtung einer Zelt-Stadt im Rahmen des angeblichen Coups abzielte und wohl politisch motiviert war, wurde höchst selten diskutiert, dass Versammlungsfreiheit nicht uneingeschränkt gilt und gegenüber anderen legitimen Interessen, namentlich der Aufrechterhaltung von öffentlicher Sicherheit und Ordnung, abgewogen werden muss. Im Gegenteil bezeichneten Oppositionspolitiker die Gesetzesvorlage schnell als ein «weiteres russisches Gesetz», während Mamuka Mdinaradze, ein Parlamentarier der regierenden Partei, erklärte, dass die Gesetzesvorlage abzulehnen «bedeutet, die Umsetzung von revolutionären Plänen, in denen menschliches Leben auf dem Spiel steht, zu unterstützen und ein Komplize in solchen Plänen zu sein». Das sogenannte «Zelt-Gesetz» wurde vom Parlament in jedem Fall in einem beschleunigten Verfahren verabschiedet, dann aber von der georgischen Präsidentin Salome Zurabishvili am 17. Oktober 2023 mit einem Veto blockiert.

Am Tag darauf, am 18. Oktober 2023, überstand Präsidentin Zurabishvili dann eine Absetzungsabstimmung, die gehalten wurde, nachdem Parlamentarier der regierenden Partei die Präsidentin formell der Zuwiderhandlung gegen die georgische Verfassung bezichtigten. Grund dafür war, dass die Präsidentin Ende August und Anfang September 2023 ohne Zustimmung der Regierung in europäische Länder gereist ist und sich dort mit europäischen Regierungsmitgliedern getroffen hatte. Die Kontroverse um die Absetzungsabstimmung war dabei ein weiteres Beispiel, in dem politische Polarisierung legale Fragen überschattete. Reaktionen zur Absetzungsabstimmung bestanden mehrheitlich in grossen politische Anschuldigungen und Gegenanschuldigungen. Der Umstand, dass Wortlaut und Auslegung relevanter Verfassungsartikel die Position der Regierung und der regierenden Partei ziemlich klar unterstützen, während Gegenargumente für die Position der Präsidentin handkehrum aus mehrschichtigen Interpretationen von sehr allgemein gehaltenen Verfassungsbestimmungen bestanden und daher verfassungsrechtlich fragwürdig waren, war in der öffentlichen und politischen Debatte kaum je ein Thema.

Angesichts all dessen steht Georgien wohl ein politisch heisses Ende von 2023 bevor — was keine förderliche Atmosphäre für die anstehende EU-Entscheidung über den Antrag der Kaukasus-Republik auf die Verleihung des Status eines EU-Mitgliedschaftskandidaten ist und auch beeinflussen könnte, ob sich Georgiens Regierung in Zukunft mehr nach Osten orientiert.

 

Franz J. Marty


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