Laut wissenschaftlichen Studien entwickelt sich der Klimawandel in der Arktis deutlich schneller als im globalen Durchschnitt. Die Folgen der Eisschmelzung an den Polen betreffen den Rest der Welt und sind vielfältig. Es wird erwartet, dass die Arktis ab dem Jahr 2030 im Sommer erstmals für einige Tage oder Wochen eisfrei sein könnte, was zusätzliche Schifffahrtsrouten eröffnet und den Zugang zu Rohstoffen erleichtert. Das geopolitische Interesse steigt somit. Auch geografisch unbeteiligte Mächte wie China und Indien versuchen, sich Einfluss auf die Region zu sichern. Die Umwelt der Arktis sowie die indigene Bevölkerung tragen jedoch weiterhin die negativen Folgen davon.
Am 27. Juni 2025 führte das Swiss Institute for Global Affairs ein Interview mit Dr. Cengiz Akandil, um mehr über seine Forschung in der Arktisregion zu erfahren und interdisziplinäres Wissen über diese zunehmend geopolitisch relevante Zukunftsregion aufzubauen. Das Gespräch mit Dr. Akandil bot einen einzigartigen Einblick, was geschieht, wenn man die Ökonomie aus der Perspektive der Ökologie betrachtet. Seine breite Expertise nutzt er, um den Wandel der Arktis zu erforschen und sich für Klimaschutz und Biodiversität einzusetzen.
Der Karriereweg von Dr. Akandil ist ungewöhnlich und dennoch trifft seine damit verbundene Expertise auf eine relevante Lücke im wissenschaftlichen Diskurs. Er durchläuft eine beeindruckende Karriere als internationaler Trader und Hedgefonds-Manager und konnte sich in internationalen Finanzzentren einen Namen machen. Doch ein Artikel über das Schmelzen der Arktis stellte sein Leben auf den Kopf. Sein steigendes Interesse an Ökologie und Klimaschutz stand in Konflikt mit seinen Tätigkeiten, unter anderem im Ölhandel. Er fing in seinen 30ern noch einmal mit Bachelorvorlesungen an und widmete die folgenden Jahre der ökologischen Forschung.
Mittlerweile hat er seinen Doktortitel erhalten und zum Thema menschliche Aktivitäten in der Arktis geforscht. Dabei untersuchte er die Entwicklung von künstlichem Licht bei Nacht, das anhand von Satellitenbildern aus den Jahren 1992 bis 2013 analysiert wurde. Diese innovative Forschungsmethode kann fehlende oder ungenaue Wirtschaftsdaten ergänzen, da klassische Indikatoren wie das BIP häufig wenig über geografische Aktivitäten oder ökologische Auswirkungen aussagen. Wie aus der Forschung hervorgeht, waren im Jahr 2013 über 800'000 km² der Arktis von künstlichem Licht in der Nacht betroffen, wovon festgestellt wurde, dass nur etwa 15 Prozent auf Siedlungen zurückgehen. Der Rest ist der Industrialisierung zuzuschreiben, welche weiterhin ein starkes Wachstum zeigt und grösstenteils durch Erdöl-, Erdgas- und Bergbau dominiert wird. Das dadurch entstandene künstliche Licht bei Nacht beeinträchtigt Tiere und Pflanzen in ihrem natürlichen Verhalten und in ihrer Anpassungsfähigkeit an die extremen Bedingungen ihres Lebensraums.
Die neu entwickelte Arktiskarte veranschaulicht eindrücklich den Wandel der Region rund um den Arktischen Polarkreis. Besonders auffällig ist der Rückgang des Meereises (rosa Fläche), der anhand von Vergleichsdaten zwischen 1984 und 2024 sichtbar wird. Ebenso zeigt die Karte die Entwicklung künstlichen Lichts bei Nacht zwischen 1992 und 2013 – ein Indikator für menschliche Aktivitäten, der insbesondere im russischen Teil der Arktis deutlich zunimmt. Ergänzt werden diese Daten durch aktuelle Standorte des oberflächennahen Rohstoffabbaus (Tagebau), die je nach Ausmass in drei Grössenklassen dargestellt sind. Darüber hinaus veranschaulichen Öl- und Gasfördergebiete sowie die entsprechenden Pipelines die starke industrielle Durchdringung der Region.
Ein zentraler Punkt, den Dr. Akandil hervorhebt, ist jedoch, dass der Grossteil der ökologischen Veränderungen in der Arktis nicht innerhalb ihrer Grenzen verursacht wird, sondern durch die weltweite Nachfrage nach Rohstoffen und Energie. Daher solle man die Veränderungen nicht in der Arktis suchen, sondern muss die Konsumgesellschaft berücksichtigen. Er beschreibt, dass sich viele Menschen im Alltag nicht bewusst sind, welchen Einfluss ihr Konsum von Kleidung, Elektronik und anderen Gütern auf die Arktis hat – und welche Rückwirkungen Veränderungen dort wiederum auf den Rest der Welt haben. Mit seiner Forschung will er politische Entscheidungstragende erreichen und so zu einer nachhaltigeren Gesellschaft beitragen. Die entstandene Arktiskarte sei jedoch erst die Grundlage seiner Forschung. In den kommenden Monaten will er nicht nur die neuen Satellitendaten der Jahre 2013 bis heute analysieren, sondern auch die Standorte der Industrialisierung im Zusammenhang mit der Häufigkeit von Wildfeuern und Vegetationsveränderungen untersuchen.
Während ökologische und ökonomische Faktoren zunehmend analysiert werden, gerate die lokale Bevölkerung oft in den Hintergrund. Dr. Akandil berichtet, wie in den 1940er bis 1960er Jahren rund um neue Minen oder Ölfelder noch dauerhaft bewohnte Siedlungen entstanden. Heute hingegen werden Arbeiter meist eingeflogen. Es entstehen keine Städte mehr – und die Menschen vor Ort profitieren kaum. Zurück bleibt eine Region ohne Infrastruktur, aber mit erheblichen ökologischen Schäden. Die Konflikte zwischen Industrie und indigenen Gruppen ziehen sich, wie der Forscher betont, durch die gesamte Arktis und reichen teils über 100 Jahre zurück.
Ein ergänzender Blick auf die geopolitische Entwicklung zeigt, dass Grönland eine andere Strategie verfolgt. Entgegen dem Rohstoffabbau vieler Arktisstaaten lehnt dies die mehrheitlich indigene Regierung Grönlands ab. Durch die Rohstoffvorkommen und ihre strategische Lage rücke Grönland jedoch immer weiter in den geopolitischen Fokus, vor allem seitens der USA, China und der EU. Ende 2024 bekräftigte US-Präsident Donald Trump erneut sein Interesse am Kauf Grönlands, nachdem er dies bereits 2019 öffentlich geäussert hatte. Das sorgt nicht nur auf der Insel selbst, sondern auch im zugehörigen Dänemark für Spannungen.
Die Arktis ist ein Schlüsselraum unserer Zeit: Sie spielt eine zentrale Rolle im globalen Klimasystem, steht im Zentrum wachsenden Rohstoffabbaus und gewinnt sicherheitspolitisch zunehmend an strategischer Bedeutung. Doch obwohl die Region geopolitisch im Fokus steht, liegen die eigentlichen Ursachen der ökologischen Veränderungen ausserhalb ihrer Grenzen – in der weltweiten Nachfrage nach Ressourcen. Um diesen komplexen Wechselwirkungen gerecht zu werden, braucht es interdisziplinäre Forschung, wie sie Dr. Akandil mit der Verbindung von Ökologie und Ökonomie leistet.
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